Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Titel gesehen und dann Frau Pulver gefragt: »Warum haben Siedieses Buch gestohlen? Aber sagen Sie nicht, dass Sie es lesen wollten!«
Roswitha konnte damals die Namen der wichtigsten Westverlage aufsagen, wie ein Gebet, denn nicht die Religionen, wie Marx und Lenin es zuvor behauptet hatten, waren Opium für das Volk, sondern Bücher. Einmal im Jahr durfte sich Roswitha ein »Westbuch« wünschen, denn einmal im Jahr bekam Roswithas Mutter, erzwungen mit einer amtsärztlichen Bescheinigung, die Genehmigung, für drei Tage ihre sterbenskranke Schwester im Ruhrgebiet zu besuchen. Und so hatte »unsere Rosi« alle Jahre wieder einen Wunsch frei. Wobei Schallplattenschmuggel von der Mutter abgelehnt wurde, die sich weigerte, das schöne Westgeld für Hottentottenmusik auszugeben. Mit einer Stones-Platte erwischt zu werden, wäre ihr vor den Zollbeamten peinlich gewesen. Ein Buch war das »höchste der Gefühle«, zu dem sie sich bewegen ließ.
Die Auswahl begann im Frühjahr im Messehaus am Markt. Ehrfürchtig stand Roswitha vor den Regalen und spürte ein Glücksgefühl bei dem Gedanken, dass ihr alle diese Bücher gehören könnten. Es war wie der Moment kurz vor der Ziehung der Lottozahlen, in dem alles möglich scheint. Stolz ging sie mit einem Beutel voller Kataloge nach Hause, doch schon beim ersten Durchblättern wandelte sich die Freude in Hilflosigkeit. Welches sollte das »Buch des Jahres« sein? Meist hatte sie mehrere Monate Zeit, sich zu entscheiden, wobei nie sicher war, ob die Mutter wirklich reisen durfte. Am Ende war es nur noch Qual und Verzweiflung.
Bis heute stehen diese Bücher allen Umzügen zum Trotz nebeneinander in Roswithas Bücherregal. Es ist eine verwirrende Mischung: Bernward Vesper, Eli Wiesel, Ingeborg Bachmann,Alice Miller, Günter Eich. Es sind nahe Verwandte, von denen sie sich nie trennen würde.
Und dann gab es noch die Bücher, die in keiner der drei Kategorien Platz fanden: Jene Bücher, die andere besaßen und die sie sich für wenige Tage erbettelten, um sie per Hand oder Reiseschreibmaschine »Erika« abzuschreiben. Auf diese Weise war Mick in Besitz einer Gedichtausgabe von Jakob van Hoddis gelangt und schrie, mit einem Blatt in der Hand, von seinem Tresen:
»Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei.«
Sie bezogen alles auf sich, gerieten in den Sog der Worte, fühlten sich verstanden. Es war ein Fieber, das sich übertrug.
Sie lebten in den Nächten. Am Tag saßen sie müde in den Vorlesungen und Seminaren und setzten ihre verbliebene Kraft dafür ein, nicht einzuschlafen. Und einmal hatte ein Dozent zu Roswitha, die mit teilnahmslosem Blick vor sich hin starrte, gesagt: »Wenn ich Ihnen jetzt noch einen Stuhl bringen dürfte, damit Sie Ihre Beine hochlegen könnten, dann würde vielleicht die Möglichkeit bestehen, dass Sie meiner Vorlesung folgen.«
Noch schlimmer war es mit Frau Pulver, die über einen festen Schlaf verfügte, hin und wieder vornüberkippte und mit dem Kopf aufschlug, was glücklicherweise nicht auffiel, da sie von allen Umsitzenden im Hörsaal überragt wurde. Trotzdem hielt es Mick für angebracht, Frau Pulver nach durchfeierten Nächten mit einem Schal an ihrem Sitz festzubinden. Mick selbst war immer wach. Für ihn war alles ein Spiel, auch das Studium. Währendsich Roswitha durch Fächer wie Konstruktion und Werkstoffkunde quälte, erledigte Mick alles mit Leichtigkeit.
Zeit zum Lernen gab es nie, denn nach Ende der Vorlesungen mussten sie Frau Pulver beim ihrem täglichen Wareneinkauf für den Studentenklub begleiten. Die Belieferung erfolgte mit einem Handwagen. Sie stapelten die leeren Bierkästen auf einen Rollfix und eskortierten die wackelige Fuhre in die nahe gelegene Kaufhalle. Es war jedes Mal ein Abenteuer. Auch der Einkauf war eine Herausforderung. Besonders in der warmen Jahreszeit blieb die Bierlieferung oft aus, und sie mussten mit anderen Getränken vorliebnehmen. Dann kauften sie nach dem Grundsatz »Hauptsache es dreht« Vierfruchtwermut, Erlauer Stierblut, Altenburger Klaren oder Goldbrand. Manchmal blieben ihnen nur der als »Blauer Würger« verschriene Kristallwodka und ungarische Dessertweine. In Zeiten größter Not kreierte Frau Pulver den Drink »Eiliko« hinter dem sich Eierlikör mit Vita Cola verbarg.
Sie genossen ihre Freundschaft. Es war der Luxus, in dem sie schwelgen konnten. Sie waren sich selbst genug, waren eine Familie:
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