Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
dieser Stadt jemanden finden? Das ist hier nicht Oberweißbach. Ich hab eine Weile auf ihn gewartet, dann musste ich mir einen anderen Untermieter suchen.«
Roswitha versuchte den Cowboy zu fixieren, doch es fiel ihr schwer, seinen Bewegungen mit einem Auge zu folgen. Sie trat an den Spiegel. Ihr linkes Auge war blau und fast zugeschwollen. Über die Stirn zog sich der rostige Abdruck der Tür.
»Ich glaube, ich werde blind«, sagte Roswitha.
»Das hat Mick immer gesungen, sagte der Cowboy. »I’d rather go blind. Irgendein Etta-James-Song.«
»Das war sein Lieblingslied.«
Roswitha stand auf dem morschen Dach und sah auf das trübe Wasser des Hudson River. »Something told me the game ist over.«
Langsam kam ihr der Text wieder in den Sinn. »When I saw you and her talkin’ …«
Und der Cowboy stimmte mit ein, und sie brüllten gemeinsam ihren Blues in den Wind. »I would rather, I would rather be blind, boy, than to see you walk away from me.«
3
ALLES WAR ENDLICH . Die Nächte voller Musik und Poesie, das Treibenlassen durch den Tag, die Unbeschwertheit, die Freundschaft, vielleicht auch die Liebe.
Sie lag im hohen Gras hinter dem Haus der Zappamutter und beobachtete einen Feuerkäfer, der an einem vertrockneten Halm nach oben stieg. Kaum hatte er die Spitze erreicht, fiel er, an ein hohles Samenkorn geklammert, wieder nach unten und fing wieder von vorne an.
Mick hatte ein neues Lieblingsbuch. Es war eine Sammlung expressionistischer Texte, mit denen ihnen der volkseigene Buchhandel die Unmenschlichkeit des Kapitalismus vorführen wollte: »Angst und Abscheu schreien die Dichter der Gesellschaft ins Gesicht.« Doch statt Abscheu empfanden sie Nähe, und das Buch wurde zu einer neuen Droge.
»Von unseren Wünschen zu ihrer Erfüllung führt eine Brücke, die Brücke der Schmerzen. Ihre Bogen schnellt sie über den ewigen Fluß des Geschehens, und ihre Pfeiler wurzeln in den abgründigen Tiefen des Flusses. Die Menschen wandern über die Brücke mit dunklen, kummervollen Augen, sie ächzen und schwanken unter der Last der Erfüllung.«
Die Sonne stand tief, und ihr Licht fiel auf die fein gesponnenen Fäden des Altweibersommers, der sich wie eine silberne Seidendecke über die ganze Wiese zog. Darüber spannte sich derdurchscheinende Septemberhimmel, unter dem sich die ersten Vogelschwärme für ihren Flug nach Süden formierten. Es duftete nach Heu, trockenem Holz, und die überhängenden Köpfe der welkenden Rosen verströmten einen penetrant süßlichen Geruch.
Roswitha sah zu Mick. Seine Haare fielen ihm wirr ins Gesicht, und seine Brille, die er wieder einmal mit Heftpflaster hatte kleben müssen, weil sie am Abend zuvor seiner Begeisterung nicht standgehalten hatte, saß schief auf seiner Nase. Micks helle Bartstoppeln glänzten im Sonnenlicht und gaben seinem hageren Gesicht etwas Leuchtendes. Zum ersten Mal bemerkte Roswitha, dass er verletzbar aussah.
Das vierte Studienjahr hatte begonnen. Als im Eröffnungsseminar die Themen für die Ingenieurarbeit vergeben wurden, begriff Roswitha, dass es ein »Danach« geben würde.
Für Mick, der von dem Drehmaschinenkombinat, in dem sein Vater als Produktionsdirektor arbeitete, zum Studium delegiert worden war, bedeutete es eine Rückkehr in sein Leben als »Unsmschi«. Die Vorstellung, dass er wieder in sein Kinderzimmer mit Urkunden und Mireille-Mathieu-Schallplatte einziehen würde, schien unfassbar. Doch Wohnungsbesetzungen in Kleinstädten waren schwierig, und von Mick, als Sohn eines »Leitungskaders«, wurde erwartet, dass er sich in die Gegebenheiten fügte. Auch Roswitha drohte die Rückkehr zu ihrer putzsüchtigen Mutter, denn das heimische Traktorenwerk suchte dringend Ingenieure und hatte sich mit einem Einstellungswunsch an die Hochschule gewandt. Es gab kein Entrinnen. Eine dreijährige Absolventenzeit war Pflicht, und jeder hatte dorthin zu gehen, wo ihn der Staat, der ihnen immerhin ein kostenloses Studium gewährt hatte, brauchte. Für die meisten Studenten bedeutete esden Wiedereinzug bei ihren Eltern, denn Wohnraum war für die Absolventen nicht vorgesehen.
Mit schwerer Hand füllte Roswitha den Bewerbungsbogen aus. Das Ende des Studiums bedeutete den Verlust des Universums, das sie sich während ihres Studiums geschaffen hatte, Lichtjahre entfernt von der übrigen Welt. Fast schien es wie ein Symbol, dass Roswitha während der Semesterferien, um Wasserflecken zu kaschieren, Sterne an die Decke von Micks Werkstattwohnung gemalt
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