Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
»Ciao, Europa!« vom Bildschirm. Zurück blieben ein Barwagen mit gebrochener Radachse, leere Likörflaschen, Mick und eine fassungslose Zappamutter. Er kniete vor ihr, drückte seinen Kopf an ihre Hände und weinte.
Zappa und Roswitha führten ihn hinaus in die kühlende Herbstluft. Als sie später nebeneinander im nassen Gras lagen und auf die Milchstraße blickten, fragte Mick leise: »Glaubst du, dass sie wiedergeboren ist?«
»Vielleicht«, sagte Roswitha.
»Aber warum ausgerechnet als Italienerin?«
Roswitha war einäugig. Das linke Auge war mittlerweile vollständig zugeschwollen, die Wunde an der Stirn nässte, und über dem Jochbein machte sich ein Hämatom breit.
Mit einer vom Cowboy geliehenen Sonnenbrille versuchte Roswitha die Verletzungen zu verdecken, aber wahrscheinlich hätte sie sich dazu eine Plastiktüte über den Kopf ziehen müssen. Sie war überrascht, dass niemand in der Subway über ihr Aussehenerschrak, was sie zu dem Gedanken verleitete, dass die Verletzungen doch nicht so schlimm sein konnten.
Ein Irrtum. Frau Anna bekreuzigte sich, als sie Roswitha die Tür öffnete. Mit einem »Ojoijoi« eilte sie in die Tiefe ihres Hamsterbaus und kam mit einer großen Kompresse wieder, die sie Roswitha auf die Stirn klebte. »Vom Leben gezeichnet« – wann, wenn nicht jetzt würde diese Formulierung zutreffen.
Frau Anna brachte ein zusätzliches Handtuch, das Roswitha über das Kopfkissen legen sollte, damit der Bezug keinen Schaden nahm. Sie fragte Roswitha, ob sie morgen abreisen würde, und machte dazu mit aufeinandergelegten Handflächen eine Bewegung, die den Start eines Flugzeuges simulieren sollte.
»You leave?«
Und bevor Roswitha in ihrem Gedächtnis einen passenden Musiktitel fand, der den Wunsch nach Buchungsverlängerung ausdrückte, nickte Frau Anna erleichtert und wünschte »Gute Reise!«.
»Gute Reise, schöne Rose, gern lass ich dich gehn«. Es war die falsche Sprache und der falsche Titel. Roswitha saß auf ihrem Bett, starrte auf den unausgepackten Koffer und dachte, dass es kein Lied gab, das sich mit Hotelbuchung befasste.
»It’s a Mistake« von der australischen Band »Man at Work« wäre jetzt passend gewesen.
Eine Nacht noch konnte sie hier im Hamsterbau bleiben. Und dann? Welcher Rezeptionist würde ihr, so wie sie aussah, ein Zimmer vermieten? Ihr Rückflug ging erst in fünf Tagen, und ein Umzug auf den Flughafen wäre keine Lösung. Solche Dinge gab es nur im Kino. Der einzige Mensch, den sie bisher in dieser Stadt kannte, war der Cowboy. Doch es war schwierig, zu ihm zurück zukehren. Er hatte ihr die Adresse von demObdach losenhaus gegeben, in dem er Mick kennengelernt hatte. Bevor sie dort nicht nachgefragt hatte, würde sie ihn nicht um Hilfe bitten können. Wenn jemand wusste, wo Mick sich aufhielt, dann würde es im »Shelter Park House« sein, denn immerhin hatten sie dort die Bezahlung seines Krankenhausaufenthalts geregelt und würden vielleicht die Krankenschwester kennen, die Mick verschleppt hatte.
Nach einem Blick in den Spiegel beschloss Roswitha, die Spurensuche auf den nächsten Tag zu verlegen und so lange es ging den Schutz des Zimmers zu genießen. Sie nahm zwei Schmerztabletten und schlief sofort ein.
Am anderen Morgen verließ sie den Hamsterbau, ohne sich von Frau Anna, die sich wahrscheinlich in einer Nische verschanzt hatte, zu verabschieden. Es war ein schöner Morgen. Die Sonne schien, es wehte ein leichter Wind, der den Kaffeeduft vom gegenüberliegenden Imbissstand mit sich trug. Roswitha hatte plötzlich das Gefühl, keine Eile mehr zu haben. Sie zottelte mit ihrem Koffer über die Straße, lächelte den Verkäufer an, »How are you?«, und der Verkäufer lächelte zurück und gab ihr einen Kaffee. Sie bezahlte mit zwei Eindollarscheinen, und weil sie ungewohnt einäugig war, verwechselte sie die Banknoten und gab ihm statt der vermeintlichen Eindollarscheine zwei Zwanzigdollarscheine, die ihr der Verkäufer, immer noch lächelnd, zurückgab und sagte, dass sie das Geld verwechselt habe.
Heute ist mein Glückstag, dachte Roswitha. Sie setzte sich neben einem Baum auf ihren Koffer und nippte an dem heißen Kaffee. Die Luft war mild. Roswitha schloss, weil die Sonne blendete, die Augen, oder besser: das eine Auge, das sie noch schließen konnte, und lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm. Plötzlich spürte sie eine kurze Berührung, fast nur einenHauch. Erschreckt sah sie sich um. In ihrem Kaffeebecher steckte eine
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