Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Disciples Of Soul«. Zappa hatte den Fernseher aus dem Wohnzimmer in die Diele geräumt und auf Anweisung seiner Mutter das Antennenkabel vorsorglich durch das geöffnete Fenster verlegt, damit die Zimmertürzum Schutz des Barwagens geschlossen bleiben konnte. Die Getränkelage war, wie so oft, bescheiden. Das handelsübliche Bier von Sachsenbräu und Sternburg zeigte auch beim Eingießen aus großer Höhe keinen Schaum, sah aus wie trübe Pisse und schmeckte, wie es aussah. Dazu gab es nicht näher bezeichneten Obstwein, den Frau Pulver in einem Fünf-Liter-Plastekanister herangeschleppt hatte. Die Säure der Früchte war mit Zucker kaschiert worden und Sodbrennen nach mehreren Gläsern garantiert. Doch all das waren Gourmetgetränke gegen die letzte Möglichkeit: den Brotwein. Das war die preiswerteste Art, sich zu betrinken. Ein afrikanisches Rezept, wie Mick behauptete, bei dem ein Dreipfundbrot zerkaut werden und, mit drei Kilogramm Zucker, fünf Liter Wasser und Weinhefe angesetzt, drei Wochen gären musste. Ständig blubberten Weinballons in einer Ecke von Micks Zimmer, und die austretenden Gase verströmten einen penetrant süßlichen Geruch, der die Kopfschmerzen am »Morgen danach« ahnen ließ. Nicht einmal Roswitha wusste, ob Mick sich an das Originalrezept gehalten und das Brot tatsächlich zerkaut und wieder ausgespuckt hatte, aber als das Bier und der Wein ausgetrunken waren und nur noch Brotwein im Angebot war, trat das Nachdenken über die Zubereitung in den Hintergrund.
Sie saßen oder lagen auf dem Holzboden der Diele, rauchten, tranken, wiegten sich im Takt der Musik und fühlten sich als Bestandteil der Liveübertragung. Es schien ein geruhsamer Abend zu werden, doch dann kam sie, die Leibhaftige, eine kleine Frau mit großer Nase und dünnen Haaren.
Schon beim ersten Lied war Roswitha wieder nüchtern geworden. Ein Tatsache, die sie unter anderen Umständen wütend gemacht hätte, denn sie hatte mehrere Stunden lang umsonst getrunken.Doch es war ihr egal. Fasziniert sah sie auf die Leibhaftig, die, ohne sich vom Beifall unterbrechen zu lassen, von Titel zu Titel hetzte. Sie kämpfte mit dem Mikrofonständer, warf ihn um, hob ihn auf, wirbelte ihn durch die Luft, wusste nicht, ob sie nach links oder nach rechts gehen sollte, blieb auf der Stelle stehen, und es zerriss sie fast vor dem Mikrofon. Mit heiserer Stimme schrie sie ihre Freude und Wut heraus. Obwohl Roswitha kein Wort verstand, begriff sie, dass da jemand auf der Bühne stand, der von dem gleichen Fieber ergriffen war wie sie alle im Raum.
»Sie singt wie Janis«, flüsterte Mick. Er war bleich geworden. Es schien, als wäre alles Blut aus seinem Körper gewichen. Er stand gebeugt vor dem Fernseher, die Arme hingen schlaff herunter. Gleich würden die Muskeln ihren Dienst versagen und Mick nach vorn kippen. Er war völlig abwesend, doch Roswitha sah die geschwollene Hauptschlagader an seinem Hals. Mick atmete in tiefen Zügen ein. Es war, als wolle er seine leeren Adern wieder füllen. Wahrscheinlich mit Flugbenzin, denn sein Körper bebte wie kurz vor dem Start.
Es entlud sich alles in einem Schrei. Mick ließ sich fallen, umfasste den Fernseher mit beiden Armen und brüllte dem Bildschirm ein lang gezogenes »Jaaaa« entgegen. Dann war er nicht mehr zu halten, wie eine fehlgeleitete Silvesterrakete rannte er kreuz und quer durch die Diele, stieß an die Wände, rannte zurück und fiel irgendwann gegen die Wohnzimmertür, die sich mit einem Krachen öffnete. »Nicht den Barwagen!«, rief Zappa noch, aber seine Stimme ging unter in Micks Geschrei. Zappa hätte sowieso keine Chance gehabt, Mick aufzuhalten. Nach wenigen Sekunden erschien Mick mit dem Barwagen und jagte mit klappernden Flaschen durch die Diele.
In seiner Verzweiflung machte Zappa, was er immer tat, wenn er sich entziehen wollte, er schob zwischen sich und die Welt eine Kamera. Trotz seiner Abneigung für Menschenaufnahmen verfolgte er Mick, der, in höchster Erregung, mit dem Barwagen vor dem Fernseher auf und ab lief und mit der Leibhaftigen um die Wette schrie. Und Zappa filmte auch seine Mutter, die, aufgeweckt von dem Geschrei, aus ihrem Bett gekommen war und mit ansehen musste, wie Mick ihren kostbaren Likör an die Bedürftigen um sich herum ausschenkte. Sie stand da in einem goldenen Morgenmantel mit wild vom Kopf abstehenden Haaren, eine Fee, der ihr Zauberstab aus der Hand geglitten war.
Nach neunzig Minuten Ekstase verschwand Gianna Nannini mit einem
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