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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Büchern bedeckt. Auf dem Boden schlängelte sich ein schmaler Pfad zwischen Bücherbergen bis hin zu einem Sessel. Darauf thronte die Königin, die mit einer Handbewegung bedeutete, dass sich Roswitha einen Platz auf einem Gipfel im Büchergebirge suchen sollte.
    »You are Rose«, sagte die Königin. Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung, und Roswitha wäre vor Überraschung beinahe von ihrem Bücherberg gekippt. Die Königin begleitete die Gleichgewichtsübungen mit einem heiseren Lachen. »Rose, Rose! Du kommst zwanzig Jahre zu spät, Rose.«
    Warum kannten alle hier sie? Was hatte Mick von ihr erzählt?
Die Königin schien ihre Gedanken erraten zu haben und sagte:
    »Er hat auf dich gewartet. Hat er dir das nicht geschrieben?«
    »Nein«, sagte Roswitha.
    Natürlich hatten sie die Karten von Mick in Unruhe versetzt, denn sie wusste, dass die lapidare Bemerkung: »Du kannst jederzeit kommen« bei Mick eine Aufforderung war.
    Aber was hätte sie diesen beindruckenden Fotos auf den Karten entgegensetzen können? Diesen gelbe Taxis, die durch Häuserschluchten jagten, den Straßen voller flimmernder Videowände? Sie lebte in einer Stadt mit nicht einmal einer halben Million Einwohner. Ihre Ehe war langweilig und ihr Berufsleben auch nicht unbedingt spektakulär.
    Wladimir hatte die Karten gehasst, denn er wusste, dass sie bei Roswitha einen gedanklichen »Kassensturz« auslösten.
    »Du willst also hier wohnen«, sagte die Königin, und auch das klang wie eine Feststellung.
    »Ich hatte noch keine Zeit, nach einem Hotel zu suchen«, sagte Roswitha.
    Die Königin verschluckte sich fast vor Lachen. »Das Komfortabelste, was sie dir bei deinem Aussehen anbieten werden, ist eine trockene Polizeizelle.«
    Roswitha schwieg.
    »Wir werden eine außerordentliche Versammlung machen und abstimmen, ob du bleiben darfst.« Wieder folgte eine Handbewegung, und Roswitha war entlassen.
    Das Politbüro wäre neidisch gewesen. Der Altersdurchschnitt der Delegierten lag bei mindestens siebzig Jahren. Sie kamen mitschwerfälligem Gang, und zwei Delegierte wurden in Rollstühlen hereingefahren. Nur die Königin schwebte leichtfüßig in den Versammlungsraum.
    Es war der ehemalige Saal eines kleinen jüdischen Theaters. Bei genauem Hinsehen waren die Davidsterne an den Säulen zu erkennen. Die Bemalung an der Decke war verblichen, und an den Wänden wellte sich die ehemals goldfarbene Tapete, die an wenigen Stellen matt glänzte. Auch die beiden verbliebenen Stuhlreihen ließen den roten Samtbezug nur noch ahnen. Einziges Prunkstück war ein Kristallleuchter an der Decke. Die über Putz verlegten Leitungen und der Porzellanschalter gaben die Zeit an, aus der er stammte. Es war einmal.
    Auch die Bewohner des »Shelter Park House« kamen aus einer anderen Zeit. Ein Mann, der mühsam auf Krücken in den Raum schlurfte, trug ein gebatiktes T-Shirt und Sandalen, die in dem Land, in dem Roswitha aufgewachsen war, Jesuslatschen hießen. Die wenigen Haare, die als Kranz um seine Glatze wuchsen, hatte er im Nacken zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden.
    »Das ist Rohan. Es heißt, er war damals in Woodstock und hat die Gitarre von Joe Cocker getragen«, flüsterte Doc Snyder ihr zu. Dann kam die kleine Frau im Pelzmantel. Die Zarin sollte vor vielen Jahren aus Russland mit dem Schiff gekommen sein. Ihr folgte ein Mann, der einen Stapel Büchern unter dem Arm trug. »Der Philosoph!«, flüsterte Doc Snyder in einem Ton, als kommentiere er, hinter dem Bühnenvorhang stehend, die Liveübertragung einer Oscarverleihung. Als Letztes kam die Königin.
    Die drei schweren Holztische im Raum waren zu einem »U« gerückt worden. Hier durften nur die Stimmberechtigten Platz nehmen, die Gründer der Kommune. Die Neuzugänge und dieZeitweiligen mussten sich in die letzten Reihen, auf die verschlissenen Polster der Klappstühle, zurückziehen.
    Zu Beginn wurde ein Versammlungsleiter gewählt, dann ein Protokollführer und danach über die Tagesordnung abgestimmt, die nur einen Punkt hatte: Roswitha.
    Der Philosoph meldete sich sofort zu Wort und fragte Roswitha, was sie über Karl Marx denken würde. Sie zögerte. War es eine Fangfrage, mit der ihre Gesinnung überprüft werden sollte? Sie suchte nach einer diplomatischen Antwort und erinnerte sich an eine Freundin, die in Indien auf die Frage, ob es stimme, dass man in Deutschland Kühe esse, geantwortet hatte: Ich habe davon gehört, aber ich weiß es nicht genau.
    »Es ist lange her«,

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