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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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sagte Roswitha.
    »Du erinnerst dich nicht an Marx?«, fragte der Philosoph empört.
    »Doch, doch, aber ich war zu jung, ihn zu treffen«.
    Natürlich hatten sie im Fach »Politische Ökonomie«, das obligatorisch zu fast allen Studienrichtungen gehörte, das »Kapital« behandelt. Doch sie hatte es nie gelesen. Zwar hatte ihnen der Dozent, der ahnte, dass sie sich niemals freiwillig mit der Lektüre befassen würden, komplizierte Fragen gestellt, deren Antworten irgendwo im Buch versteckt waren. Doch Mick hatte sich bei diesen Seminararbeiten an den oft zitierten Satz von Marx gehalten: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und das Sein von Roswitha, Mick, Frau Pulver und Zappa war eindeutig darauf ausgerichtet, sich die freie Zeit nicht mit dem Lesen von ungeliebten Büchern zu verderben. Also suchte das »Bewusstsein« nach einem Ausweg, und Mick erfand eine Methode, die ihnen erlaubte, die Fragen innerhalb weniger Minuten zu beantworten:das gezielte Lesen. Es war die Fähigkeit, im Text nach markanten Worten zu suchen. Je ungewöhnlicher der Begriff, desto schneller der Treffer. Sie blätterten im Schnelldurchlauf durch das Buch, bis jemandem das gesuchte Wort ins Auge fiel, und hatten so zu viert innerhalb weniger Minuten alle Antworten gefunden – heute, im Computerzeitalter, ein normaler technischer Vorgang. Damals war es eine Methode, die dazu führte, dass Roswitha in der schriftlichen Prüfung im Fach Politische Ökonomie, bei der sie alle Bücher verwenden durften, eine Eins schrieb, ohne jemals das »Kapital« gelesen zu haben.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, der sich jetzt rächte. Schon hob der Philosoph zu einer weiteren Frage an, als er glücklicherweise von der Zarin unterbrochen wurde, die wissen wollte, ob Roswitha Russisch sprach. »Da!«, sagte Roswitha. Es war eines der wenigen Worte, die nach zehn Jahren Russischunterricht in ihrem Gedächtnis hängen geblieben waren. Auch Russisch war ein verhasstes Fach gewesen, ein notwendiges Übel, das ihr nun, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, mitten in New York unerwartet einen Vorteil bringen sollte.
    Als Nächstes wollte Joe Cockers Gitarrenträger wissen, welche Musik Roswitha bevorzugte. Die einfachste Antwort wäre »Joe Cocker« gewesen, aber sie war nicht sicher, ob er es nicht als Ironie empfinden würde und so sagte sie wahrheitsgemäß: »Janis Joplin.«
    Ein Stöhnen ging durch den Raum.
    Wie sie den Woodstock-Auftritt bewerten würde, fragte der Gitarrenspieler mit leiser Stimme.
    Woodstock, das magische Wort, die Mutter aller Konzerte und der Vater aller Legenden. Manchmal, wenn sie nachts auf denDielenbrettern lagen und Musik hörten, erzählte Mick von Woodstock. Sie fuhren ewig auf einem überfüllten Highway, bis sie endlich das Gelände erreichten. Über ihnen kreisten die Hubschrauber mit den Musikern, unten kreisten die Joints. Mick zelebrierte jedes Detail, beschrieb minutenlang die Wassermelone, die der Sänger von Ten Years After von der Bühne getragen hatte. Er ließ Pete Townshend sich das Hemd aufreißen und Hendrix auf der Bühne in die Knie gehen. Immer am Ende seiner Erzählungen kam sie und tanzte besessen über die Bühne.
    Als Roswitha Jahrzehnte später endlich den Film im Kino sehen durfte, hatte sie bis zum Schluss vergeblich auf den Bühnenauftritt von Janis Joplin gewartet.
    »Es war ihr schlechtester Auftritt«, sagte der Philosoph, »und man hat sie zu Recht aus dem Film geschnitten.« Der Gitarrenträger setzte zum Widerspruch an, als die Königin unwillig auf den Tisch schlug und den Streit unterband. Sie erinnerte an den eigentlichen Grund der Zusammenkunft und drängte zur Abstimmung über Roswithas Schicksal.
    Die Zarin streckte beide Arme in die Höhe, der Philosoph zögerte, bevor er seine Hand hob, aber am Ende war es einstimmig. Roswitha durfte bleiben. Sie bekam ein kleines Zimmer in der obersten Etage. Eine Metalltür führte direkt hinaus auf das Dach. Sie setzte sich auf eine herumstehende Holzkiste. Von der Ferne hörte sie das gleichmäßige Rauschen des Verkehrs. Oder war es das Meer? Roswitha lehnte sich an die sonnenwarme Wand und streckte die Beine aus. Als sie aufwachte, saß der Cowboy neben ihr.
    »Na? Eingelebt?«, fragte er.
    »Ich habe noch nicht einmal mein Bett bezogen.«
    »Schäm dich! Faulheit am Ort der Barmherzigkeit.«
    »Was ist das eigentlich für eine Kommune? Sind das Christen oder Kommunisten, oder Anarchisten?«
    »Sie sind alles auf einmal.«
    »Geht das?«
    Der Cowboy

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