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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Zwei-Dollar-Note. »God bless you!«, sagte eine Frau und lief weiter.
    Das »Shelter Park House« lag nur drei Blocks von Frau Annas Hamsterbau entfernt. Es war ein schmales Haus in einer Häuserzeile. Nichts deutete auf seine Bestimmung hin. Nur ein kleines Schild über der Tür zeigte den Namen an.
    Davor warteten einige Frauen. Sie bildeten sofort eine Gasse, als Roswitha näher kam. »Sie öffnen erst um zwölf Uhr«, sagte eine Frau, die neben einem Einkaufswagen auf dem Fußboden hockte, »aber in dringenden Fällen kann man klopfen.« Es gab keine Klingel. Die Tür hing locker in den Angeln, und die Holzstäbe, die im Gittermuster über das Glas geklebt waren, wären kein Schutz gewesen. Es war zehn Minuten vor zwölf Uhr, und alle hielten respektvoll Abstand. Roswitha näherte sich vorsichtig und klopfte. Sofort öffnete sich die Tür. Vor Roswitha stand eine kleine alte Frau in Wintermantel und Pelzmütze. Die Frau verzog ihr runzliges Gesicht zu einem Lächeln und sagte fröhlich: »Come in!«
    Als Kind und eigentlich während des größten Teils ihres Lebens hatte Roswitha das Gefühl gehabt, dass sie stören würde. Nur mit Mick, Frau Pulver und Zappa war es für kurze Zeit anders gewesen. Bei ihnen hatte sie sich nie für etwas entschuldigen müssen. Es war das Glück, immer verstanden zu werden.
    Dieses Gefühl kehrte unerwartet wieder. Die kleine alte Frau nahm Roswithas Hand und führte sie ins Souterrain. Es war ein karger Raum, mit einer Möblierung, die Roswitha an den Speiseraum aus ihrer Schulzeit erinnerte. Die immer wieder zitierten Sprelacarttische, die Sperrholzstühle, der Geruch nach abgestandener Luft, Abwaschwasser, Essenresten. Ein Transparent an derWand rief zum Pazifismus auf, daneben hingen ein Madonnenbild und Martin Luther King. »Unsere Heiligen!«, sagte eine tiefe Stimme. Es war die Stimme einer dicken, schwarzen Bluessängerin. Doch die Frau, die im Gegenlicht vor dem vergitterten Fenster stand, war weiß und wirkte in ihrer Feingliedrigkeit zerbrechlich. Mit einer huldvollen Geste, die einer Königin zur Ehre gereicht hätte, hieß sie Roswitha mit dem üblichen »How are you doing?« willkommen, und Roswitha hoffte, dass die Frage nicht nur rhetorisch gemeint war. Die Königin wies auf einen Stuhl und holte eine Tasse Kaffee. »We have soup today, hundred percent organic. Would you like it?« Ohne die Antwort abzuwarten, kam sie mit einem Teller Suppe wieder. Es war Gemüsesuppe, und auf der Brühe schwammen frisch gehackte Kräuter. Es roch nach Koriander. Das hätte es bei der Schulspeisung nicht gegeben. Der Zeiger an der Wanduhr schnippte auf die Zwölf. Roswitha hörte Stimmen; jetzt kamen auch die Frauen von der Straße. Sie beobachteten Roswitha neugierig, hielten jedoch Abstand.
    Die Königin selbst stand an der Essensausgabe und verteilte, zusammen mit einem jungen Mann, die biologische Suppe. Als der erste Ansturm vorüber war, kam er an Roswithas Tisch und fragte mit unverkennbarem Dresdner Dialekt: »Nu, wer hat dich denn so zugerichtet?«
    »Es war ein Unfall«, sagte Roswitha, »ein Schlag mit der Türklinke.«
    »Optimale Ausbeute«, sagte der junge Mann, »ich heiße Martin, Dr. Martin Schneider. Ich bin Arzt, ich würde mir das gern mal ansehen.« Gehorsam folgte sie ihm in die erste Etage.
    Der Treppenaufgang war schmal, und die Stufen ächzten bei jedem Schritt. Doc Snyder hatte nach Ende seines Studiums beschlossen,freiwillig für drei Monate im »Shelter Park House« Dienst zu tun. Er bewohnte ein kleines Zimmer in dem ein Feldbett und ein Kleiderständer standen. Roswitha musste sich auf das Bett setzen, und er untersuchte ihren Kopf. »Sauberer Schlag«, sagte er, holte einen Arztkoffer hinter dem Kleiderständer hervor und reinigte die Platzwunde an Roswithas Stirn. »Die gute Nachricht ist, es scheint nichts gebrochen zu sein.«
    »Und die schlechte?«
    »Dein Aussehen wird sich in den nächsten Tagen nicht bessern. Blutergüsse brauchen ihre Zeit.« Er holte eine Augenklappe aus seinem Koffer. »Zur Schonung!«
    Roswitha versuchte ihr Gesicht in der Fensterscheibe zu spiegeln. Mit diesem Aussehen hätte sie in jedem Horrorfilm eine Hauptrolle bekommen.
    »Ich bring dich jetzt ins Büro«, sagte Doc Snyder.
    Das Büro lag auf der gleichen Etage, wobei der Begriff Büro mit dem Ort, den Roswitha wenig später betrat, nichts gemein hatte. Der Schreibtisch war erst nach längerem Hinsehen zu erkennen. Ob Tische oder Stühle, sämtliche Möbel waren von

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