Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
stöhnte auf. »Hast du vergessen? In dieser Stadt ist alles möglich.«
»Nach dem Studium gründen wir eine Kommune!«, hatte Mick verkündet. Der Begriff Kommune hatte etwas Verwegenes, selbst wenn sich im Wortstamm eine Ähnlichkeit mit »Kommunismus« nicht leugnen ließ. Kommune klang nach Freiheit, nach einem Leben ohne Regeln, nach Anarchie. Mick versprach ihnen ein gemeinsames Leben, obwohl feststand, dass jeder seine dreijährige Absolventenzeit in einer anderen Stadt verbringen musste. Doch es blieben die Wochenenden. Der Kommunenhauptsitz sollte das Zimmer über der Polsterwerkstatt werden. Mick würde sich mit dem Polsterermeister einigen, und da das Zimmer nicht als offizieller Wohnraum erfasst war, konnte ihnen kein Amt die Wohnung streitig machen. Der Zufluchtsort »Zappamutter« war vorerst keine Alternative, da Mick seine Likörschuld noch nicht abgetragen hatte.
Während der Wochentage würden sie eine »Kommune im Kopf« sein, sich Briefe schreiben oder, wenn es eine Möglichkeit gab, miteinander telefonieren und ihre Ideen austauschen. Mick war sicher, vor ihnen lag eine Zeit voller Kreativität, die bis an ihr Lebensende andauern würde. An eine körperliche Alterung dachte niemand. Auch nicht an eine Lebensform »Familie«. Die Ehen ihrer Eltern waren kein Beispiel, dem sie folgen wollten. Ein Leben, dessen Abende in einem gemeinsamen Einschlafenvor dem Fernsehapparat gipfelten, war nicht erstrebenswert. Nie wollten sie sich streiten, weil der andere vergessen hatte, das Brot zu holen, oder die Zeitung nicht ordentlich zusammengefaltet hatte. Nie wollten sie ihre Samstage mit Putzen und Autowaschen verbringen und niemals Konsummarken einkleben und Diskussionen über die Höhe des Haushaltsgeldes führen. Sie waren nicht gewillt, ihre Lebenszeit mit den Banalitäten des Alltags zu verschwenden. Ihr bevorstehendes Werktätigenleben würden sie als notwendiges Übel hinnehmen müssen. Doch für die andere Zeit sollte es keine Zwänge geben. An Ideen mangelte es nicht. Mick plante einen Roman mit dem Titel »Luzifers Brother« und schrieb an einer Rockoper, deren Aufführung er der Hochschule zum Abschied schenken wollte. Zappa arbeitete seit vielen Monaten an der Bebilderung seines Lieblingstitels »Friday Night in San Francisco«. Frau Pulver schlief mit einem Schauspieler und träumte von einer Bühnenkarriere. Und Roswitha? Roswitha hatte das Fotografieren entdeckt.
Es war ein Zufall gewesen. Die Hochschule arbeitete mit den umliegenden Braunkohletagebauen zusammen und vergab alljährlich Diplomarbeitsthemen, die dazu beitragen sollten, die Ausfallzeiten der Maschinen zu senken. Und ausgerechnet Roswitha war dazu bestimmt worden, die Volkswirtschaft zu retten. Das Thema ihrer Ingenieurarbeit kam ihr vor wie ein expressionistischer Text: »Einfluss der Funktionsstörungen infolge Kettenlängung auf die Quantifizierung der Aussonderungsgrenze von Rollenketten unter dem besonderen Aspekt der zweckmäßigen Gestaltung eines Spannradeinsatzes zur Kompensation des verschleißbedingten Leertrumdurchhanges«. Leider hatte die Hochschulleitung wenig Interesse an Literatur, und es war zu befürchten, dass sie tatsächlich auf einem Lösungsansatz bestanden.Und was das Schlimmste war, es wurde erwartet, dass sie sich die Dinge vor Ort ansah.
Die Tagebaue lagen außerhalb der Stadt. Roswitha war nicht bewusst gewesen, wie nah sich die Bagger bereits an die Stadtgrenze herangefressen hatten.
Sie fuhren mit dem Bus durch Dörfer, deren Schicksal, sollte nicht ein Wunder geschehen, besiegelt war. An einem Zaun hing ein Bettlaken mit dem Spruch »Nicht für Gold und Edelstein tauschen wir die Heimat ein!«. Doch nicht einmal die Polizei interessierte sich für diesen Protest. Die Nachbarhäuser waren bereits abgerissen, und in wenigen Tagen würde dieses Haus samt Gartenzaun und Plakat folgen. Zerstörung im Namen der Kohle, noch nie zuvor hatte sich Roswitha darüber Gedanken gemacht. Schockiert zog sie den Fotoapparat aus ihrer Tasche, den ihr Zappa vorsorglich zum Fotografieren der Maschinenteile mitgegeben hatte. Sie wollte festhalten, was sie sah, weil sie fürchtete, dass ihr niemand glauben würde. Durch das Busfenster fotografierte sie die Trümmer, die einmal ein Dorf gewesen waren. Das Klicken des Auslösers bescherte ihr die neugierigen Blicke der anderen Fahrgäste. Sie fühlte sich ertappt und sagte schnell: »Das ist für meine Diplomarbeit!«
An der Bushaltestelle empfing sie der
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