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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Helme ins Genick geschoben, und betrachteten Roswitha wie ein exotisches Tier, das sie gleich erlegen und ausstopfen wollten. »Eine für die Schmetterlingssammlung!«, sagte ein Hagerer und schlug seinem Nachbarn auf die Schulter.
    »Die Studierte braucht was Warmes«, schrie der Dicke in Richtung Tresen. Der Wirt kam mit einer Schnapsflasche und zwei Gläsern. Es war früher Nachmittag, und Roswitha hatte eigentlich eine heiße Suppe erwartet.
    »Deputat«, sagte der Dicke und goss ihr ein Saftglas voll Schnaps. Sein Gesicht war mit Kohlestaub überzogen, nach dem Trinken blieb ein schwarzer Rand auf dem Glasrand zurück.
    »Wo haste die denn aufgegabelt?«, fragte der Wirt.
    »Die hat gerade Urlaubsbilder geknipst hinten an der 13.«
    »Wir sind alle zur Erholung hier!«, schrie einer der Bergleute am Tresen. «Ein Himmel wie am Meer, nur der Weg zum Strand ist so weit!«
    »Die schönsten Motive gibt’s sowieso am Tresen«, sagte der Wirt. Die Bergleute rissen sich die Helme vom Kopf und stellten sich in Positur. Ein schwarzer Streifen teilte die Köpfe in einen hellen und einen dunklen Abschnitt. Die von Bier und Schnaps rein gewaschenen Münder leuchteten unnatürlich rot. Zögernd holte Roswitha den Fotoapparat aus ihrer Tasche.
    In Zappas Dunkelkammer wurden diese Momentaufnahmen zu einem Dokument. Es war ein wunderbares Gefühl, wenn die Gesichterauf dem Papier wie aus dem Nichts auftauchten und Konturen bekamen.
    Zappa war begeistert und sagte, Roswitha sei ein Naturtalent. Voller Überschwang überließ er ihr den Fotoapparat als Dauerleihgabe. Es war eine russische »Zenit«, eine schwere Spiegelreflexkamera, die gut in der Hand lag. Nicht zu vergleichen mit der kleinen »Pouva Start«, die Roswitha vorher besessen hatte, ein billiges Plastegehäuse mit einem einzigen Hebel, der nur die Wahl zwischen Sonne und Wolken erlaubte. Bei der »Zenit« konnte Roswitha die Belichtungszeiten und die Tiefenschärfe verändern, sie konnte den Iso-Wert des Films einstellen, die Entfernung, die Art des Motivs. Es gab viele wunderbare Rädchen und auch einen Hebel für den Selbstauslöser, der sich schnarrend wie ein Uhrzeiger nach oben drehte. Klack.
    Als die Flasche mit dem Deputatschnaps geleert war, hatten die Bergleute, beeindruckt von Roswithas Trinkfestigkeit, ein gemeinsames Bild eingefordert. Roswitha hatte den Fotoapparat, damit er die richtige Höhe hatte, auf eine Bierglaspyramide gestellt, den Hebel gedrückt und war zu den Bergleuten an den Tresen gerannt, die sie bereitwillig in ihre Arme nahmen. Sie fand, dass sie merkwürdig glücklich wirkte auf diesem Bild.
    »Warum fotografierst du dich denn mit dem Proll?«, hatte Mick gefragt.
    Und es hatte ein wenig nach Eifersucht geklungen.

4
    MIT ABSTAND BETRACHTET war es nicht nur das Foto mit den Bergmännern gewesen, das Mick eifersüchtig gemacht hatte, sondern die Tatsache, dass Roswitha etwas gefunden hatte, das sie nicht mit Mick teilte. Der Blick durch den Fotoapparat, der Druck auf den Auslöser, jene Zehntelsekunde, die das Bild ausmachte und von anderen Bildern unterschied, war etwas, das nur ihr gehörte. Es ärgerte Mick, dass er an der Entstehung der Bilder nicht Anteil nehmen konnte. Manchmal zerschnitt er Roswithas Fotos und klebte sie neu als Collage zusammen.
    Das Fotografieren eröffnete Roswitha eine neue Welt. Sie lief durch die Straßen und sah Dinge, die sie niemals zuvor wahrgenommen hatte. Auch Jahrzehnte nach Kriegsende waren auf den Gehwegplatten noch die Einschläge der Granatsplitter zu erkennen, und über einigen Kellerfenstern zeigten die verblichenen Buchstaben »LSR« den Zugang zu einem Luftschutzraum an. Viele Häuser waren unsaniert geblieben, und jedes abgebröckelte Stück Putz auf dem Gehweg war ein Hinweis auf den bevorstehenden Zerfall. Die Stadt starb einen langsamen Tod, und es schien niemanden zu stören. In den ersten Wochen fotografierte Roswitha nur Hausfassaden, als wäre sie dazu bestimmt, eine Bestandsaufnahme ihres Stadtviertels zu machen. Nach den Häusern kamen die Menschen. Anfangs hatte sie noch etwas Scheu und tat, als würde sie nur zufällig in diese oder jene Richtungfotografieren. Doch den meisten Menschen war es egal. Sie waren gefangen in ihren Verrichtungen, trotteten die Straße entlang, und erst das Klicken des Auslösers weckte ihr Interesse, aber dann war es schon zu spät, sich zu beschweren. Wurde sie angesprochen, sagte Roswitha, sie würde Aufnahmen für ihre Diplomarbeit machen. Die Kunst

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