Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Schichtleiter. Er war kaum älter als sie. Sein Helm saß schief, als wäre es eine Faschingsmütze, auch sein tiefschwarzer Bart wirkte wie angeklebt.
»Freiwillig hier?«, fragte er und lachte. Sie fuhren in einem Trabi-Kübelwagen am Rand der Grube entlang. Bei jeder Bodenwelle schlug Roswitha mit dem Kopf gegen das Stoffdach. Es gab keine Türen, und sie hielt sich aus Angst, in einer Kurve aus der offenen Seite herauszufallen, mit beiden Händen am Dachgestänge fest. Es war so kalt, dass sie aufschrie. Der Schichtleiterlachte, nahm die Hände vom Lenkrad, zog, während das Auto führerlos über die Bodenwellen sprang, seine Handschuhe aus und reichte sie Roswitha. »Damit du nicht festfrierst!« Hinter einer Anhöhe tauchte der Bagger auf. Ein Koloss aus Stahl, der von Weitem aussah wie ein zweiköpfiger Drache. Der Drache spie Kohle. Über die Förderbrücke fielen die Brocken polternd in die Waggons der bereitstehenden Züge. War der letzte Wagen gefüllt, gab der Lokführer ein Signal, fuhr die Schräge nach oben, und schon kam der nächste Zug, stoppte, und krachend öffneten sich die Ladeklappen der Waggons. Roswitha konnte sich nicht vorstellen, dass sie hier mit ihrer Diplomarbeit etwas verändern würde. Der Schichtleiter schien der gleichen Ansicht zu sein. Er zog eine Mappe aus seiner Wattejacke und drückte sie ihr in die Hand. »Kannst du gern abschreiben!« Auf dem Deckblatt stand das Thema von Roswithas Diplomarbeit. »Daran habe ich mich vor fünf Jahren versucht«, sagte er und lachte wieder. »Glaubst du, in der Hochschule hat jemand Ahnung davon, was hier los ist?« Er stand breitbeinig vor dem Bagger, den Kopf in den Nacken gelegt. »Das sind Dinosaurier, die haben ihr eigenes Leben und brauchen Respekt.« Vor ihnen in der Grube gab es einen Knall. Ein Zug war beim Anfahren wieder nach unten gerutscht. Der letzte Wagen war entgleist und mit einer Kante gegen die Lok des nachfolgenden Zugs geknallt.
»Scheiße!«, sagte der Schichtleiter. Er rannte zu seinem Auto, drehte sich noch einmal um, zeigte in das Nichts der Ebene und rief: »An der nächsten Kreuzung rechts, dann immer geradeaus bis zur Bushaltestelle!« Dann war er samt Auto verschwunden.
Roswitha blieb nichts anderes übrig, als loszulaufen. Der Wind trug den Staub der Halden über die Ebene. Es war November, und das Wasser in den Pfützen war mit einer dünnenEisschicht überzogen. Roswitha stapfte in Halbschuhen über den harten Boden, in dem sich das Muster einer Baggerkette abzeichnete, und versuchte nicht in den Zwischenräumen stecken zu bleiben. Zum Schutz gegen Kälte und Staub band sie sich die gebatikte Baumwollwindel, die sie um den Hals trug, vors Gesicht. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und war gleichzeitig froh darüber, dass sie während der übereilten Verabschiedung vergessen hatte, dem Schichtleiter seine Handschuhe zurückzugeben. Vor ihr lag eine zerfurchte Ebene, die am Horizont von Abraumhalden begrenzt wurde. In der Ferne war das Schreien der Bagger zu hören, das manchmal zu einem Wimmern wurde, so, als würde ein Kind in ein Megafon weinen. Wäre sie nicht schon völlig durchfroren gewesen, hätte sie jetzt der Schüttelfrost gepackt. Sie hatte die Orientierung verloren. An der Kreuzung rechts, hatte ihr der Schichtleiter gesagt. Aber es gab keine Kreuzung. Nur Furchen in der Erde, die aus der Fläche einen Schnittmusterbogen machten. Plötzlich riss die Wolkendecke auf und ließ die Furchenkanten glänzen. Es war ein surreales Bild. Schrecken und Schönheit lagen dicht beieinander. Roswitha nahm den Fotoapparat aus ihrer Tasche, zog die Handschuhe aus und drehte mit klammen Fingern am Objektiv.
»Wir sind hier nicht im Urlaub!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Es war ein dicker Mann in Wattejacke und Filzstiefeln. Grinsend sah er auf Roswithas Halbschuhe. Mit weit ausholenden Schritten lief er voran, und sie bemühte sich, ihm zu folgen. Als sie endlich an der Bushaltestelle ankamen, sahen sie noch die Rücklichter des davonfahrenden Busses. »Der nächste fährt in vier Stunden«, sagte der Dicke und zeigte auf eine Kneipe direkt neben der Haltestelle: »Unser Wartehäuschen!«
»Frohe Zukunft« stand in Neonschrift über der Tür. Doch die Buchstaben waren mit Kohlestaub überzogen und schimmerten nur matt. Auch im Gastraum herrschte begrenzte Sicht. Roswitha schlugen Rauchschwaden entgegen, die eindeutig nach »Karo« rochen. Die Karoraucher lehnten am Tresen, die
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