Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Wanderschaft, und plötzlich fühlte Roswitha die Weite einer Landschaft, vergaß, dass sie eingezwängt zwischen fremden Zuschauern saß. Sie versuchte sich eine Steppe vorzustellen, moosüberzogene Berghänge, doch die Bilder wechselten, und zu ihrer eigenen Verwunderung stand sie plötzlich wieder mitten in der endlosen Ebene des Tagebaus, flankiert von Abraumhalden, und hörte den Bagger schreien. Die Erinnerung überfiel Roswitha so vehement, dass sie erschrak.
Sie war noch einmal zurückgekehrt, um dem Schichtleiter die Handschuhe zu bringen. Fellgefütterte Fingerhandschuhe aus grobem Stoff, die Handflächen mit Lederaufsatz. Die Naht am rechten Daumen war etwas aufgeplatzt gewesen, und trotz ihrer Abneigung gegen Handarbeiten hatte sie den Handschuh ordentlich repariert.
Es war Februar, kurz nach Beginn des letzten Semesters gewesen. Roswitha hatte die Abschlussarbeit, die sie inzwischen komplett abgeschrieben hatte, und die Handschuhe in einen Dederonbeutel gepackt, sich Zappas Russenschapka geborgt und war, eingemummt in einen dicken Anorak und Wollschal, mit dem Bus zum Tagebau gefahren. Es lag Schnee. Sie suchte vergeblich nach dem Geisterdorf, das sie damals fotografiert hatte. Alles lag unter einer weißen Decke, die verlassenen Häuser, die Trümmer. Eine unschuldige Landschaft. Der Schichtleiter holte sie von der Haltestelle ab. Sein Helm saß gerade, und der Bart war ordentlich rasiert. Sie gingen in die »Frohe Zukunft«. Die Männer am Tresen drehten ihnen den Rücken zu und schienen mit sich selbst beschäftigt. Widerspruchslos servierte ihnen der Wirt Soljanka und Tee und hatte die Suppe sogar mit einem Klecks saure Sahneund einer Zitronenscheibe dekoriert. Der Schichtleiter aß schnell, bedacht darauf, dass er kein Wurststück vom Löffel verlor. Sie redeten über das Studium, die Sinnlosigkeit der Ausbildung, die losgelöst von jeglicher volkswirtschaftlichen Wirklichkeit ablief. »Der Tagebau hat seine eigenen Gesetze«, sagte der Schichtleiter, der Wladimir hieß: Wladimir Kleinschmidt, so stand es auf dem Deckblatt seiner Ingenieurarbeit. Mit dem Namen hatten sie allesamt kein Glück gehabt, wobei es Wladimir am härtesten getroffen hatte. Es war der ausdrückliche Wunsch seines Vaters gewesen, und Wladimirs Mutter hatte ein Iljitsch gerade noch verhindern können. Was seine Mitschüler jedoch nicht abgehalten hatte, ihn die ganze Schulzeit lang Lenin zu rufen. Er müsse sich nicht für seinen Namen entschuldigen, sagte Roswitha. Eigentlich hätte sie auf Wunsch ihres Vaters Rosa heißen sollen, wie die Luxemburg, doch ihre Mutter hätte sich geweigert und wenigstens auf Roswitha bestanden. Wladimir lachte und sagte, sie könne doch zufrieden sein, Rosa sei ein schöner Name. Er betonte die Vokale und sah Roswitha an. Dann blickte er wieder nach unten und löffelte weiter seine Soljanka.
Der Wirt hielt respektvoll Abstand und rief vom Tresen aus, ob sie noch einen Tee wollten. Roswitha wunderte sich, dass niemand von den Bergleuten lachte. Sie zeigte dem Schichtleiter Wladimir die Fotos, die sie auf ihren Irrweg durch den Tagebau gemacht hatte. Er war überrascht und sagte, so habe er die Landschaft noch nie gesehen. Lange betrachtete er die Bilder der verfallenen Dörfer.
»Wie Krieg!«, sagte er.
»Du fährst jeden Tag daran vorbei«, sagte Roswitha.
»Glaubst du, ich sehe aus dem Fenster?« Der Schichtleiter lachte. »Wenn alle im Bus schlafen, schläfst du einfach mit.«
»Und dann?«, fragte Roswitha.
»Es gibt kein ›Dann‹«, sagte der Schichtleiter. »Ich wohne in einem Arbeiterwohnheim. Dort ist immer Ruhe, der Vorzug des Dreischichtsystems: Entweder man schläft, oder man sitzt im Bus und fährt zur Arbeit, oder man sitzt im Bus und kommt von der Arbeit.«
»Und du vermisst nichts?«, fragte Roswitha.
Er sah sie erstaunt an. »Kann sein. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken.«
Sie erzählte ihm, dass sie noch am Ende des Semesters in der Hochschule eine Rockoper aufführen wollten.
»Eine Rockoper«, sagte er und schmeckte das Wort auf der Zunge.
»Ja«, sagte Roswitha, »wie im Theater. Wenn du willst, lade ich dich ein.«
Er brachte sie zum Bus, sie gaben sich die Hand, und sie stieg ein. Als der Bus um die Kurve bog, blickte sie sich noch einmal um und sah ihn noch immer an der Haltestelle stehen und dem Bus hinterherschauen.
Oft waren es nur Kleinigkeiten, die das Leben veränderten, dachte sie, während sie in dem Konzertsaal in Soho saß. Es
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