Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
des Fotografierens war, nicht unsichtbar zu sein, sondern dem anderen ein normales Gegenüber zu bieten.
Ihr Leben bekam einen neuen Rhythmus. Oft ging sie schon am Morgen allein aus dem Haus, um nach Motiven zu suchen, und fuhr dann mit der S-Bahn zu Zappa, um die Filme zu entwickeln. Mick blieb zu Hause, weil er sich noch immer vor der Zappamutter schämte. Er hätte es nicht zugegeben und gab als Grund an, dass er die Arbeit an seiner Rockoper nicht unterbreche könne. Zudem rückte der Abgabetermin der Ingenieurarbeit näher.
Die Abschlussarbeit des Schichtleiters hatte Roswitha mehrere Wochen Freizeit beschert. Manchmal bekam sie beim Abschreiben ein schlechtes Gewissen und dachte, dass sie ihm wenigstens die Handschuhe zurückbringen sollte.
Roswitha saß in der Stadt, in der »alles möglich war«, auf dem Dach einer altgewordenen Hippiekommune und fühlte sich, als würde sie schon seit Wochen hier leben. »Hat Mick eigentlich auch in dem Haus gewohnt, oder hat er hier nur zu Mittag gegessen?«, fragte sie den Cowboy.
»Er hatte ein Zimmer im Souterrain. Du hast hier die Fürstensuite mit Dachgarten. Vor dir hat darin eine Familie aus Afrika gewohnt.«
»In diesem kleinen Zimmer?«
»Die Deutschen sind verwöhnt.«
»Wie schafft es die Kommune eigentlich, hier im Haus so friedlich zusammenzuleben?«
»Ganz einfach, indem sie sich nach jedem Streit wieder vertragen.«
»Mick wollte nach dem Studium auch immer eine Kommune gründen.«
»Und warum hat er es nicht getan?«
»Höhere Gewalt!«
Roswitha stand auf.
»Ich habe mir immer vorgestellt, in dieser Stadt leben nur Individualisten.«
»Ja, klar!«, sagte der Cowboy, »aber ich glaube an eine Gemeinsamkeit von Individualisten.« Er suchte nach einem Zettel in seiner Jackentasche und schrieb ihr eine Adresse auf. »Komm heute Abend nach Soho. Vielleicht ist das eine Erklärung.«
Roswitha verkniff sich ein »Kannst du mich abholen?«.
Und als hätte er es geahnt, sagte der Cowboy: »Du muss lernen, dich allein zurechtzufinden.«
Die Dunkelheit gab ihr Schutz, niemand beachtete Roswitha, und sie konnte ungestört nach der Adresse suchen. Es war eine schlichte Holztür zwischen einer neonbeleuchteten Bar und einer Galerie. Über eine kleine Treppe gelangte man in einen großen Raum. Decke und Wände waren mit schwarzem Stoff bespannt. In einer Ecke stand ein schwarzer Flügel. Der einzige Schmuck waren die Besucher, eine bunte Mischung verschiedener Ethnien und Altersgruppen. Die Zusammensetzung ließ keinen Rückschluss auf das zu erwartende Programm zu. Vielleicht waren sie aber auch nur gekommen, weil der Eintritt mit fünf Dollar erschwinglich war und es zudem noch kostenlos Rotwein gab. Roswithastand, aus Furcht, es könne sie jemand ansprechen, mit ihrem Plastikbecher in einer Ecke und sah scheinbar interessiert drei jungen Männern zu, die mit schnellen Bewegungen die Stuhlreihen einrichteten. Wie schon im »Shelter Park House« ähnelten die Stühle dem DDR-Schulstuhlmodell, nur die Sprelacarttische fehlten. Entweder war die DDR in ihrer Möbelgestaltung so zukunftsweisend gewesen, dass alle diesen Stil kopiert hatten, oder die Welt war sich ähnlicher als erwartet.
Langsam füllte sich der Raum. Roswitha setzte sich in die hinterste Reihe an den Rand und beobachtete die Tür, durch die hoffentlich gleich der Cowboy kommen würde. Oder hatte er sie hierher gelockt, damit sie ihm nicht auf die Nerven ging?
Das Licht im Raum erlosch, und in den Lichtkegel eines Scheinwerfers trat eine kleine, in einen bunt bestickten Umhang gehüllte Frau. Im Halbdunkel neben ihr saß, kaum sichtbar, eine schwarz gekleidete Cellistin.
Die Cellistin begann mit einer monotonen Ouvertüre. Einige Besucher flüsterten miteinander, doch nach dem ersten Ton der Sängerin war es schlagartig still. Es war ein kehliger Laut, geformt in der Tiefe des Körpers, halb Schrei, halb Klage. Er schwang durch den Raum, verfolgt von anderen Tönen, die ihm hinterherjagten und ihn doch nicht einholen konnten.
Einmal, auf der Suche nach Musik, war Roswitha nachts beim Radiohören in eine Sendung geraten, in der Experten den Unterschied zwischen Obertongesang und Untertongesang erörtert hatten. Während der gesamten Sendung war sie nie sicher gewesen, ob es sich um eine Wissenschaftssendung oder um eine Parodie gehandelt hatte.
Im Gedächtnis geblieben waren ihr diese Töne, Zwitterwesen, halb Instrument, halb Stimme.
Das Cello gab ihnen Raum, ging mit ihnen auf
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