Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
zu fotografieren begonnen. Manchmal im Traktorenwerk, unter dem Vorwand, Fotos fürs Brigadetagebuch oder die Wandzeitung machen zu wollen, manchmal aus alter Gewohnheit auf der Straße, und manchmal auch bei den Partys. Wie in alten Zeiten fuhr sie dann zu Zappa und entwickelte die Bilder in seiner Dunkelkammer. Seit Frau Pulvers Liaison mit dem Bühnenmaler hatte sich Zappa zurückgezogen, weil er es nicht ertragen konnte, die drei als Familie zu sehen. Das Ende der Absolventenzeit war in Sicht, und Zappa erwog, sich an der Filmhochschule zu bewerben. Manchmal besuchte ihn Roswitha, dann saßen sie nachts wie zu alten Zeiten auf der Hollywoodschaukel der Zappamutter und hörten »Friday Night in San Francisco«, und Roswitha sagte, dass die Hollywoodschaukel für seine Bewerbung ein gutes Omen sei. Zappa hingegen behauptete, sie habe das viel größere Talent. Er gab Mick recht, der Roswitha immer wieder zu einer Ausstellung drängte. Irgendwo würde sich schon ein passender Ort finden. Mick hatte den Bühnenmaler, mit dem sie trotz Frau Pulvers Abdankung noch befreundet waren, dazu überredet, seine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Zur Vorbereitung der Ausstellung hatte Roswitha die Kiste mit den wichtigsten Fotos und Negativen mit zu Frau Pulver geschleppt. Sie stritten bei der Auswahl um jedes Bild, Mick bestand auf den Fotos des eingestürzten Hauses. Als Roswitha dem Bühnenmaler die Fotos zeigen wollte, waren sie verschwunden, samt Negativfilm. Sie suchten überall,verdächtigten sogar Rilke, doch die Fotos waren unauffindbar. Sie stritten, wer Schuld haben könnte. Jeder verdächtigte jeden, und am Ende war der Bühnenmaler beleidigt und zog sein Angebot zurück. Vielleicht war es auch besser so.
Immer öfter, wenn Roswitha anrief, sagte Frau Pulver, »sie habe gerade den Handwerker«. Sie sagte es wie: »Ich bin gerade erkältet, es wäre besser für dich, fernzubleiben, damit du dich nicht ansteckst.«
Manchmal war der Handwerker auch am Abend da, und Roswitha bezweifelte, dass die beiden Tee tranken. Sie war in großer Sorge um Frau Pulvers Seelenheil, und als dann die Bemerkung fiel, »der Handwerker sei nicht unnett und habe schöne Augen«, schickte sie Frau Pulver ein Telegramm.
»In Zeiten des Verrats sind Handwerker schön. Stop.
Heiner Müller«
»Meine liebste Schwester,
bist Du Dir bewusst, in welche Schwierigkeit Du mich mit Deinem Telegramm bringen kannst? Die Handwerker machen mehr, als angemessen ist. Da wird es eine hohe Rechnung geben. Glaube und vertraue MIR endlich. Glaubst Du wirklich, ich würde Entscheidungen treffen, ohne mit Dir darüber gesprochen zu haben? Du weißt, dass es mir eigen ist, alles bis zum Rand auszuleben. Eben ALLES. Ich muss sehen, bevor ich sprechen kann. Ich freue mich, dass ich geheizt habe heute.«
In Zukunft vermieden sie das Thema Handwerker. Wenn Roswitha an den Wochenenden kam, war die Wohnung »sauber«.Sie machten Ausflüge mit Rilke und frönten weiterhin dem Party leben. Frau Pulver versuchte Rilke so wenig wie möglich zu ihren Eltern zu geben, was zur Konsequenz hatte, dass sie ihn nachts ab und zu wieder allein ließ.
Es war eine Schuld, die sie alle trugen, denn natürlich war es schön, am Abend mit Frau Pulver um die Häuser zu ziehen, im Theaterklub zu sitzen oder bei einer Party mit den Möchtegernkünstlern »abzuhufen«. Sie alle wollten teilhaben an Frau Pulvers Wahnsinn und hätten doch besser auf sie aufpassen müssen.
Auch Roswitha hatte Frau Pulver nicht aufgehalten, im Gegenteil. Sie war ihr fröhlich zur Sonnabendnachtparty in den Kleingarten des Dichters gefolgt, weil es hieß, der Hanf wäre geerntet. Selbstsüchtig hatten sie beide Rilke allein in der Wohnung zurückgelassen. Nur zwei Stunden waren geplant, was sollte da schon passieren, länger waren diese Verrückten sowieso nicht zu ertragen. Doch dann war auch noch Mick dazugekommen, und sie waren bis weit nach Mitternacht geblieben.
Der Dichter hatte seine Hanfpflanzen im Backofen getrocknet, die Blätter zerbröselt und mit Tabak gemischt. Sie saßen auf der Wiese, rauchten und warten auf die Wirkung. Sie warteten fünf Minuten, zehn Minuten, sie warteten eine halbe Stunde. Nichts. Der Westdeutsche erzählte etwas von Mutter- und Vaterpflanzen und von Befruchtung. Der Dichter war nicht davon ausgegangen, dass Hanfpflanzen ein Geschlecht hatten.
Mick schlug vor, es das nächste Mal mit Fliegenpilzen zu versuchen. Ein Fliegenpilz sei ein Fliegenpilz und müsse nicht
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