Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
mit Herr oder Frau Fliegenpilz angesprochen werden.
Die Party drohte öde zu werden, denn in Vertrauen auf seinen Hanf hatte der Dichter keinen Alkohol gekauft, und sie saßen im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trocknen. Ein angehenderArzt bot Ersatz und holte Hustensaft aus seiner Wohnung, erwärmte ihn auf einem Spirituskocher und löste Schmerztabletten darin auf. Die Schale kreiste.
Roswitha und Frau Pulver, die sich, wegen der geplanten Rückkehr zu Rilke, vorgenommen hatten, wenig zu trinken, lehnten dankend ab.
Der Hustensaft hatte eine enthemmende Wirkung. Der Dichter riss sich sein Hemd vom Leib, taumelte durch den Garten und brabbelte seine Gedichte wie ein Mantra vor sich hin. »Bräutigame verlassen heute / ihre keifenden Bräute / wie sinkende Schiffe / und schwimmen sich frei!«
Ein Musiker hupte wirre Klangfolgen auf seinem Saxofon, und die Malerin, die Ausgang hatte, weil es ein gerades Datum war, beschmierte sich ihr Gesicht mit Erde. Auch Mick hatte von dem Hustensaft getrunken und war nicht davon abzuhalten, in den Apfelbaum zu steigen. Er wollte dem Dichter Paroli bieten und rezitierte ein neues Gedicht gen Nachthimmel:
»sasportas
den strick um den hals
von geburt an
schwarz wie die nacht
im schatten seiner Leiche
schneidet er sich
eine neue fahne
aus seiner haut«
Roswitha und Frau Pulver gingen, als alle zu kotzen begannen. Schon von Weitem sahen sie das Auto. Jemand aus dem Haus hatte die Polizei gerufen. Am Ende wollte es niemand gewesen sein.Auch die Nachbarn beteuerten, dass sie kein Weinen gehört hätten. Die Polizisten drohten an, die Tür aufzubrechen, wenn Frau Pulver nicht freiwillig aufschließen würde. Sie polterten in die Wohnung, und natürlich wachte Rilke auf und begann zu weinen.
Drei Tage später kam ein Brief vom Jugendamt. Die Polizei hatte Frau Pulver wegen »Vernachlässigung der Aufsichtspflicht ihres Kindes« angezeigt.
Doc Snyder kam mit drei Gläsern Wodka wieder. Es war wie bei jedem Schnaps, er schmeckte erst nach dem zweiten Schluck.
»Gegen Wodka hast du doch nichts einzuwenden?«, fragte der Cowboy.
»Idi k chertu!«
»Was heißt das?«, fragte Doc Snyder.
»Scher dich zum Teufel!«
»Sympathy for the devil!«, sagte der Cowboy und ging eine neue Runde Wodka holen.
Der Raum füllte sich. Innerhalb weniger Minuten waren alle Plätze besetzt. Ein kleiner Scheinwerfer beleuchtete ein abgegriffenes Rednerpult.
»Spricht jetzt der Parteisekretär?«, fragte Roswitha.
»Nein, der Generalsekretär der KPdSU. Oder hast du was gegen Russen?«
»Nur gegen Geheimdienste!«
»Mick hat hier übrigens auch schon gelesen.«
»In welcher Sprache?«
»Ich nenne es mal: Versuche in Englisch. Es war so kurios, dass es manche für Kunst gehalten haben und sogar ein Verleger, der zufällig im Publikum saß, Interesse gezeigt hat. Mick war so euphorisch, dass er seinen Job im Teddyladen aufgegeben hat.«
»Was hat er denn im Teddyladen gemacht?«
»Kinder bespaßt.«
»Mick war doch gar kein Typ für Kinder!«
»Sie haben ihn ja auch nicht gesehen, er steckte ja im Kostüm drin.«
»Jetzt brauch ich doch noch einen Wodka«, sagte Roswitha.
»Na sdorowje!«, sagte der Cowboy.
Der steigende Wodkapegel versetzte Roswitha in eine wohlige Gleichgültigkeit. »Man darf sich nicht einlullen lassen«, dachte sie.
Die Handwerker hatten eine neue Abordnung geschickt. Dieses Mal waren es zwei Männern im Anzug, die nicht mit der Absicht erschienen, Frau Pulver etwas zu schenken oder ihr durch Reparaturarbeiten das Leben zu erleichtern. Die überbrachte Botschaft war eindeutig: Entweder Frau Pulver würde mitarbeiten oder Rilke käme ins Heim.
Frau Pulver war verstört. Auf der einen Seite zogen ihre Eltern an Rilke und drohten mit der Polizei, auf der Seite drohte die Stasi mit Kinderheim. Dieser kleine, liebe Junge, der alle zum Lachen brachte, war plötzlich zu einer Waffe geworden, die sich gegen seine eigene Mutter richtete. Frau Pulver bekämpfte die Probleme mit Doppelwachholder. Manchmal schaffte sie es nicht, am Morgen zur Arbeit zu gehen. Dann half nur der grüne Sozialversicherungsausweis, und sie ließ sich, getreu dem Motto »Ich nehm mein grünes Urlaubsbuch und mache einen Arztbesuch« krankschreiben. Als sie drei Tage hintereinander nicht mehr ans Telefon ging, nahm Roswitha einen Tag Urlaub und fuhr nach Karl-Marx-Stadt. Doch als sie ankam, war die Wohnung leer. Sie setzte sich an den Schreibtisch und suchte ein BlattPapier und einen Stift, um
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