Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
erkannte er in ihr seine einäugige Seelenverwandte.
Die Haut des Wals war schiefergrau und erinnerte an eine schlecht abgewischte Wandtafel. An einigen Stellen waren Kratzer zu sehen, als hätte jemand versucht, mit einem scharfen Stein etwas in die Tafel zu ritzen. Der Augapfel war von einer milchigen Schicht überzogen. Es sah aus, als hätte der Wal gerade geweint. Ein Mann kam mit einem Stapel Plastikeimer. Alle Umstehenden griffen zu, auch der Cowboy. Er reichte Roswitha einen Eimer. »Wir müssen Wasser holen und ihn bis zur Flut am Leben halten!«
Noch war Ebbe, und das Wasser ging weiter zurück. Es war zu befürchten, dass der Wal bald vollends auf dem Trockenen lag. Sie bildeten eine Kette, reichten sich die vollen Eimer zu und gossen das Wasser über den Walkörper. Auch Roswitha reihte sich ein. Sie krempelte ihre Hosen hoch. Das Wasser war kalt, und sie wechselten immer wieder die Positionen, damit sich niemand verkühlte. Zwei Frauen brachten rote Markisenbahnen, feuchteten sie an und legten sie auf die Walhaut. Es sah aus, als würde der Wal Zeichen zum Himmel geben.
»Warum ist er an Land geschwommen?«, fragte Roswitha. »Ich dachte, Wale sind klug.«
»Wer sagt, dass er es aus Dummheit getan hat? Es passiert immer wieder, und niemand weiß, warum. Es gibt einige Erklärungsversuche, Verführung durch die Töne der Schiffsschraubenund die zunehmende Tankerdichte. Aber für mich bleibt es trotzdem ein Rätsel. Sie stürzen sich regelrecht an Land, als hätten sie es geplant. Manchmal sind es ganze Gruppen.«
»Ein kollektiver Selbstmord?«
Der Cowboy zuckte mit den Schultern. »Frag den Wal!«
Roswitha erinnerte sich genau, es war Mittagszeit gewesen. In der Kantine gab es Bratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelbrei, und jeder wünschte jedem »Mahlzeit«. Danach hielt der Produktionsdirektor seine mittägliche Zeitungsschau, und die Sekretärin strickte. Die fettige Bratwurst und das Sauerkraut lagen Roswitha schwer im Magen. Sie saß zurückgelehnt an ihrem Schreibtisch und sah auf den Himmel über den Werkhallen, an dem die Schwalben kreisten. Die Vögel flogen hoch, und Roswitha dachte, dass es am Wochenende schönes Wetter geben würde. Ausflugswetter. Sie könnten mit Rilke an einen See fahren. Es waren noch zwei Tage. Roswitha wusste immer noch nicht, was sie tun sollte. Einerseits war sie so enttäuscht und verletzt, dass nicht sie es sein wollte, die den ersten Schritt tat, andererseits kannte sie Frau Pulver, die eben mit all ihren Schwächen und Stärken war, wie sie war und immer so bleiben würde. Roswitha ahnte, in welche Zwänge Frau Pulver geraten sein musste. Damit war einiges zu entschuldigen, doch nicht alles. Schwer zu verzeihen war das Schweigen. Roswitha hatte während der letzten Nächte immer wieder einen Brief begonnen, aber er war bereits bei der Anrede gescheitert. »Schwester …« Gab es für das, was Frau Pulver getan hatte eine Entschuldigung? Roswitha quälte sich mit dem Gedanken, dass es konsequent wäre, Frau Pulver nie mehr wiederzusehen.
Sie hatte ein Telegramm an Mick geschickt, er möge sie dringendanrufen, doch zum vereinbarten Termin an der Telefonzelle, war der Hörer abgerissen gewesen. Zwar war es ihr am nächsten Tag gelungen, Mick an seinem Betriebstelefon zu erreichen, aber umgeben von mithörenden Kollegen konnte sie nur kryptisch über den Vorfall sprechen, und Roswitha war nicht sicher, ob Mick überhaupt das Ausmaß des Vergehens begriff.
Roswitha würde es erst am Wochenende mit ihm klären können. Fragte sich nur, wo?
Als das Telefon klingelte, schrak sie zusammen. Sie fühlte sich beim Nachdenken gestört. Unwillig nahm sie ab, und bevor sie sich melden konnte, sagte eine leise Stimme.
»Lilo hat sich das Leben genommen.« Sie ahnte mehr, als dass sie es wusste, dass es die Stimme des Bühnenmalers war.
»Wie geht es ihr?«, fragte Roswitha.
Am anderen Ende war Schweigen.
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie haben sie mitgenommen.«
»In welches Krankenhaus?«
»In kein Krankenhaus.«
»Aber wo ist sie dann?«
»Na, sie ist tot.«
Die Worte sickerten in Roswithas Bewusstsein, Tröpfchen für Tröpfchen. Sie blieb mit dem Hörer, aus dem das Besetztzeichen tönte, sitzen, bis irgendwann die Sekretärin kam und ihn ihr aus der Hand nahm und auflegte. Roswitha starrte aus dem Fenster auf die hochfliegenden Schwalben. Am Wochenende würde es schönes Wetter geben. Sie hörte, wie die Sekretärin aus dem Raum ging. Roswitha sah ihr
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