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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Frau Pulver einen Brief zu schreiben. Aber es fanden sich nur abgebrochenen Bleistifte und Kugelschreiber ohne Mine. Typisch Frau Pulver, dachte Roswitha. Auch in den Schreibtischschubladen war auf den ersten Blick kein Stift zu entdecken. Roswitha suchte unter den Papieren – und erstarrte. Sie wünschte sich, blind zu sein. Sie wollte nicht sehen, was sie sah, doch es war nicht rückgängig zu machen. Vor ihr lagen die Fotos: die eingestürzte Treppe, die Trümmerberge, die Mutter die schützend die Arme um ihren Sohn legte.
    Vielleicht hatte sich Frau Pulver die Fotos ansehen wollen, sagte sich Roswitha. Vielleicht war sie so begeistert davon, dass sie die Bilder für immer besitzen wollte. Vielleicht …
    Tausend Entschuldigungen gingen Roswitha durch den Kopf. Doch egal, was sie dachte, immer blieb am Ende die Frage: Wozu brauchte Frau Pulver den Negativfilm? Und warum steckten die Fotos in einem Umschlag?
    Roswitha breitete die Fotos auf den Schreibtisch aus und steckte nur die Negativrolle in ihre Tasche. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, alles zusammen in den nächstbesten Papierkorb zu werfen.
    In dem Moment, in dem sie ging, war Roswitha entschlossen, niemals zurückzukehren. Trotzdem zögerte sie, bevor sie den Schlüssel in den Briefkasten fallen ließ.

7
    ROSWITHA LAG IM BETT , und ihr war schwindlig. Sie wusste nicht, ob es vom Wodka war oder von ihren Gedanken über Mick. Die »Mission Mick« wurde immer mysteriöser. Alle kannten ihn, alle kannten sich untereinander, und niemand wusste, wo er war? Sie versuchte sich Mick im Teddykostüm vorzustellen.
    Ihr fiel ein, dass sie sich im Wodkarausch mit dem Cowboy zu einem Ausflug ans Meer verabredet hatte. Das fehlte jetzt auch noch. Wobei ihr die frische Luft vielleicht guttun würde. Roswitha zwang sich aufzustehen. Als sie nach unten kam, saß der Cowboy bereits in der Küche und trank Kaffee.
    Sie fuhren eine Stunde mit der Subway bis Coney Island. »When you’re all alone and lonely in your midnight hour«. Die Jukebox in Roswithas Kopf spielte Lou Reeds »Coney Island Baby«. Mick hatte immer behauptet, die Seele eines Menschen bestünde aus seinen Lieblingsliedern.
    Sie liefen die Strandpromenade entlang. Hotdog, Zuckerwatte, Andenken. »Live human target«, drei Schuss für fünf Dollar. Die Amerikaner schreckten vor nichts zurück. Roswitha sah auf das verwilderte Grundstück, auf dem sich ein vermummter Mann mit einem Schild gegen Paintball-Patronen schützte.
    »Guter Job«, sagte der Cowboy, »das hat Mick auch einmal gemacht.«
    »Er hat auf sich schießen lassen?«
    »Zum Überleben!«
    Die Trümmerstücke auf dem Grundstück waren übersät von den Einschlägen der Farbpatronen.
    »War er eigentlich glücklich?«
    »Alles andere wäre in seinen Augen eine Niederlage gewesen.«
    Sie liefen weiter. In einer Nische zwischen den Restaurants saßen Männer an Campingtischen und spielten Schach. Auf den Parkbänken daneben sonnten sich Frauen im Pelzmantel. Der Wind wehte den Geruch von süßlichem Parfüm herüber.
    »Willkommen in der Sowjetunion!«, sagte der Cowboy.
    In einem mit Plastikfolie »verglasten« Restaurant saß eine Familie beim Essen. Der Kellner brachte eine dampfende Schüssel mit Pelmeni. Auf der Strandpromenade gegenüber spielte ein Stehgeiger »Leningrader Nächte«.
    »Und das beim Klassenfeind!«, sagte Roswitha.
    »Die wissen, wo es schön ist! Und außerdem lassen sich hier gut Geschäfte mache. Von Kaviar bis Kalaschnikow. Mick hat auch mal versucht, mit Wodka zu handeln. Aber nicht lange.«
    Sie schlenderten weiter die Strandpromenade entlang. Das Meer toste, und die Wellen trugen Schaumkämme.
    »Im Sommer muss es hier schön sein«, sagte Roswitha.
    »Ja, wenn du gern mit Hunderttausenden am Strand liegst!«
    »Aber der ist doch endlos?«
    »Und die Stadt ist groß!«
    Sie zogen die Schuhe aus und gingen barfuß durch den Sand. Über ihnen kreiste ein Möwenschwarm. Sie waren fast allein. Nur in der Ferne hatten sich Menschen um einen dunklen Hügel versammelt. Der Cowboy und Roswitha liefen direkt darauf zu.
    Am Strand lag ein vom Himmel gestürzter Zeppelin. An einigenStellen war die Außenhaut eingefallen, wahrscheinlich waren Streben gebrochen, eine eingedellte graue Zigarre mit einer Länge von ungefähr zwanzig Metern. Erst als sie näher kam und das Auge sah, begriff sie, dass es ein Tier war. Der Wal lag auf der rechten Seite und blickte sie aus seinem in Falten gebetteten Auge unverwandt an, als

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