Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Tereschkowa und Rotarmisten. Der ganze Raum war voller Devotionalien der untergegangenen Sowjetunion. Über der Musikanlage hing eine große Zeichnung von Lenins Kopf, der wie eine rot strahlende Glühbirne gemalt war. Darunter wieder die drei Buchstaben: KGB. Das Spiel mit dem Grauen war in Mode gekommen. Sie setzten sich an einen Ecktisch, und Doc Snyder ging zum Tresen, um etwas zu trinken zu holen.
»Und? Hast du Heimatgefühle?«, fragte der Cowboy.
»Auf die könnte ich durchaus verzichten. Warum nennen sie die Bar nicht nach den örtlichen Geheimdiensten. FBI oder CIA?«
»Wenn es dich beruhigt, du kannst in dieser Stadt weder eine Bar FBI, CIA noch KGB nennen. So frei ist dieses Land nun auch wieder nicht. Das hier ist die »Kraine Galery Bar«, KGB ist nur die Abkürzung«
»So ein Zufall!«
»Hier tagten früher die ukrainischen Sozialisten. Es gab Bankette, Tanzkurse, politische Veranstaltungen und ein Vier-Gänge-Menü für 5 Dollar. Der Besitzer hat hier seine Kindheit verbracht und wollte nur das Haus retten.«
»Er hatte es ja auch ›Ukraine Inn‹ nennen können.«
»Ich finde den Namen lustig!«, sagte Doc Snyder.
»Tja«, sagte Roswitha, »die Gnade der späten Geburt.«
Letztendlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich wieder zu erkennen gaben. Irgendwann tauchten sie aus dem Nichts auf. Und obwohl Roswitha ständig mit ihnen rechnete, war sie doch überrascht.
Es erinnerte sie an das Maulwurfspiel auf dem Rummelplatz. In eine Holzplatte waren viele Löcher gesägt, und dann lugte aus einem beliebigen Loch ein Kopf, und wenn man nicht blitzschnell mit einem Gummihammer zuschlug, kam der Maulwurf nach oben und hatte gewonnen. Es galt, möglichst lange durchzuhalten, aber irgendwann verlor jeder Spieler die Konzentration, oder die Kraft im Arm reichte nicht mehr aus, um richtig zu treffen. Am Ende gewannen immer die Maulwürfe.
Sie waren geschickt und suchten sich die schwächste Stelle aus: Frau Pulver.
Frau Pulver war nach ihrem anfänglichen Schwelgen im Familienglück wieder in ihre alten Muster verfallen und umgab sich mit einer illustren Gesellschaft. Da waren ein Dichter, der in dem Garten seines Großvaters Hanf anbaute, eine Malerin, die, aus welchem Grund auch immer, nur an geraden Tagen aus dem Haus ging, ein durchaus begabter Lyriker mit Waschzwang, ein Friedhofsgärtner, der in einer Ecke seines Friedhofs Petersilie anbaute und auf dem Markt verkaufte, mehrere brotlose Musiker, verkannte Schauspieler und ein Westdeutscher, der nicht wollte, dass man wusste, dass er aus dem Westen kam. Aber natürlich wusste es jeder und buhlte um seine Gunst. Er wurde zu allen Partys eingeladen und freigehalten, und jeder versuchte unauffällig, bei ihm Bücher oder Schallplatten zu bestellen. Aber er war für Gerechtigkeit und brachte niemandem etwas mit, damit keiner bevorteilt wurde.
Frau Pulver war es überraschend gelungen, am Theater eine Stelle als Komparsin zu bekommen, was bedeutete, dass sie neben ihrer täglichen Arbeit in einem Maschinenbaukombinat an einigen Abenden im Monat auf der Bühne stand. Sie war so glücklich, dass niemand es wagte, ihr diesen Wahnsinn auszureden. Solange Rilke im Wagen schlafen konnte, war alles kein Problem. Schwierig wurde es erst, als er zu laufen begann, nicht mehr in den Kinderwagen passte und zu Hause bleiben musste. Immer häufiger kam es zum Streit mit dem Bühnenmaler, der sich in seiner einsamen Rolle als Kindshüter nicht gefiel. Auch gelang es Frau Pulver immer seltener, nach Vorstellungsende den Theaterklub zu meiden. Sie war hin und her gerissen zwischen dem »Experiment Familie« und ihrer Sucht nach Unterhaltung.
»Liebe Schwester,
nun also wieder ICH, diesmal eben Lilo. Ständige Angst, ihm nicht zu genügen, Angst vor seiner Erwartungshaltung. Angst, Angst, Angst. Und nebenan die große Trauer. Nicht bös, nicht flippig – nur sehe ich wieder das Permanentleid, dem ich eigentlich hold bin. Glücklich über jede Stunde, die wir noch zusammen sind, enttäuscht über die Vielfalt unserer entgegengesetzten Sprachen. Emotionen dürfen sich doch nicht abnutzen?«
Kurz nach dem zweiten Geburtstag von Rilke zog Frau Pulver endgültig wieder zurück in ihre Mansardenwohnung. Es begann die Zeit der Babysitter. Oft fanden sich Freunde oder Hausbewohner zum Aufpassen. Das junge Paar aus der Nachbarwohnung hatte einen Schlüssel und guckte in regelmäßigen Abständen nach Rilke. Aber manchmal, in größter Not, musste sie ihn ohne
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