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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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fast durchsichtige Haut, unter der sich die Adern abzeichneten. Seine Hände waren schmal und zart und seine Ohren mit einem zarten Flaum bedeckt. Es war unfassbar, dass sich dieses stille Wesen in Frau Pulvers Bauch befunden haben sollte.
    Frau Pulver war begeistert von ihrem Werk. Drei Monate blieben ihr bis zum Arbeitsbeginn, und sie übte sich in Häuslichkeit. Sie wusch Windeln, bügelte Hemdchen, stillte, putzte, kochte und blieb die Abende sittsam zu Hause. Auch der Bühnenmaler war glücklich. Er hatte in seiner Wohnung ein Kinderzimmer eingerichtet und darin die Wände mit lustigen Figuren bemalt. Es schien, als könne aus den dreien eine richtige Familie werden. Frau Pulver schrieb nur noch selten Briefe, und wenn, dann lasen sie sich wie ein Babytagebuch, in dem jedes Bäuerchen kommentiert wurde. Sie hatte einen Platz gefunden, nach dem sie gar nicht gesucht hatte. Für Roswitha war diese Wandlung erstaunlich, und sie fürchtete, dass Frau Pulver sie eines Tages mit »Mahlzeit« begrüßen könnte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie mit Mick ein Kind hätte. Als sie ihn einige Monate nach dem Kennenlernen gefragt hatte, ob er später einmal Kinder haben wolle, hatte er geantwortet: in Amerika. Sie wusste nicht, wie sie nennen sollte, was sie mittlerweile mit Mick verband, sexuelle Freundschaft oder freundschaftliche Sexualität? Eine Geschwisterliebe mit Inzest? Sie waren sich nah, und doch erschien er ihr oft unglaublich fremd. Immer seltener ließ er sie an seinen Träumen teilhaben, vielleicht auch, weil er wusste, dass sie es leid war, immer nur mit den Gedanken an die Zukunft zu leben.
    Es gab niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Frau Pulver mit ihrem Mutterhirn war ein Totalausfall.
    Doch im dritten Hausfrauenmonat kamen die Briefe wieder häufiger.
»Liebe Schwester, die Glücklichste bin ich allemal nicht, die zu Hause friedlich die Familie bekocht. Wochenlang reichten meine Begabungen aus, mir etwas einzureden, auch im positiven Sinne. Es ist angenehm, für bestimmte Zeiten einen Ruhepunkt zu finden. Ich gehe sogar zum Fleischer! Aber was ist mit den Nächten?«
    Roswitha wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte.
    Der Cowboy kam gegen neun. Roswitha hatte auf Neuigkeiten gehofft, aber er wollte ihr nur eine besondere Bar zeigen. Doc Snyder, der wie zufällig im Hausflur stand, schloss sich an.
    Langsam wurde es Nacht in New York. Die Reklameschilder über den Restaurants leuchteten, und auf den Tischen flackerten die Windlichte. Die Blumenhändler und Gemüseverkäufer standen in milchig schimmernden Folienzelten und verwalteten ihre Auslagen. Roswitha lief zwischen Doc Snyder und dem Cowboy. Sie dachte, dass der eine mit Sicherheit ihr Sohn sein könnte und der andere, mit viel Selbstbetrug, ihr jüngerer Bruder. Egal. Sie genoss es, so durch die Straßen zu gehen. Vor ihr lag die Nacht, die unendliche Nacht, und es war das Gefühl wie früher, als sie sich jedes Mal gewundert hatte, dass es am Morgen wieder hell wurde.
    Die Bar lag in einer Seitenstraße der Second Avenue. Die Gegend wirkte, als wäre die Elektrizität gerade erst erfunden worden. Es gab keine Straßenlampen; das einzige Licht fiel aus matt beleuchteten Fenstern auf den Gehweg. Die Häuser mit ihren Klinkerfassadenund Feuerleitern sahen wie Werkstätten aus. Roswitha bezweifelte, dass es in dieser Straße eine Bar geben könnte, doch der Cowboy ging zielsicher voran. Über einer Eingangstür wies ihnen ein unscheinbarer, schwach leuchtender Glaskasten den Weg. Es waren nur drei Buchstaben: KGB.
    »In dieser Gegend wohnten früher viele Ukrainer«, sagte der Cowboy.«
    »Ach, und da haben sie die Bar aus Sehnsucht nach ihrem Geheimdienst benannt?«
    Acht Stufen führten nach oben zur Eingangstür. Sieben Stufen waren es damals in die »Siebte Hölle« gewesen. Es war eine dumme Angewohnheit. Roswitha musste alles zählen. Doch die nachfolgende Eisentreppe war so steil, dass nicht nur die Mathematik, sondern auch die Puste versagte. Was war denn das für eine Bar, bei der man nach oben steigen musste? Dachte niemand an den Rückweg?
    Der Innenraum wirkte auf den ersten Blick düster. Dunkle Holztäfelung, rote gestrichene Wände, rote Plüschvorhänge, Bleiglasfenster. Es war die Idee gediegener Bürgerlichkeit, die im völligen Gegensatz zur übrigen Ausstattung stand. Direkt von der Decke hing eine Sowjetfahne, und von den Bildern an der Wand grüßten Lenin, die Kosmonautin Walentina

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