Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
hinterher, und zum ersten Mal bemerkte sie das Fluchtwegzeichen über der Tür. Eine weiße Person, die durch eine geöffnete Tür ging, hinaus ins Grüne. Überall warendiese Schilder: auf dem Gang, über der Eingangstür. Überall Fluchtwege. Roswitha lief die Landstraße entlang, sie war nicht fähig, mit dem Bus zu fahren. Als sie zu Hause ankam, lag ein Brief auf der Flurgarderobe: Roswitha war erleichtert. Alles war ein Irrtum. Sie würden am Wochenende einen Ausflug machen. Alles würde wieder gut werden. Der Brief hatte keine Anrede.
»Schulddorn säumt meinen Weg
der ins Nichts führt
die Unendlichkeit stößt an ihre Grenzen
überall Mauern
es gibt kein richtiges Leben im falschen
ich bleibe deine Schwester
wenn du es ertragen kannst«
Sie fuhr mit dem Zug. »Tür nicht öffnen, bevor der Zug hält!«, »Nicht hinauslehnen!«. Zwanghaft las sie alle Verbotsschilder. Sie lief den gewohnten Weg vom Bahnhof zu Frau Pulvers Wohnung. Immer geradeaus, vorüber am Denkmal der Augustkämpfer, die in langer Reihe, Brust an Rücken gepresst, ein Bollwerk bildeten. Roswitha ging links um die Ecke und dann wieder geradeaus. Als sie vor der Haustür stand, fiel ihr ein, dass sie keinen Schlüssel mehr hatte, doch die Tür stand offen. Roswitha stieg nach oben in die vierte Etage. Sie wusste selbst nicht, warum sie klingelte. Wer sollte ihr öffnen? Sie drückte, und es kam kein Ton, die Klingel klemmte. Sie drehte die Klingel auf: Zwischen den Kontakten steckte Zeitungspapier. Frau Pulver hatte es manchmal gemacht, wenn Rilke schlief, damit er nicht aufwachte. Roswitha steckte das Zeitungspapier zurück und drehte die Klingel wieder zu.
Sie versuchte es beim Nachbarn. Erst nach dem dritten Klingeln öffnete er die Tür. Als er Roswitha erkannte, schlug er sie sofort wieder zu.
»Geh weg!«, schrie er. »Geh bitte weg!«
Sie hämmerte gegen die Tür. Sie hörte an seinem Atem, dass er auf der anderen Seite stand. Sie setzte sich auf die Schwelle und lehnte sich an die Tür. Irgendwann musste er die Wohnung verlassen.
Sie hörte ihn immer noch auf der anderen Seite atmen. Nach langer Zeit sagte er endlich. »Du musst gehen, sie haben mich vier Stunden lang verhört.«
»Warum?«
»Ich habe sie gefunden. Es war Zufall. Ich hatte den Schlüssel und wollte mir zwei Stühle aus ihrer Wohnung leihen. Da lag sie in der Küche, den Kopf in der Backröhre. Ich habe sie rausgezogen. Weißt du, wie das aussieht?«
Er weinte.
»Ich habe panisch alle Fenster aufgerissen und nach Rilke gesucht. Er war nicht da. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Brief von Lilo, acht Seiten, ich habe ihre Handschrift erkannt, ich hab’s versucht, aber ich konnte ihn nicht lesen, ich konnte ihn verdammt noch mal nicht lesen. Meine Hände haben gezittert. Und ich musste ja Hilfe holen.«
Wieder schwieg er.
»Die Typen waren noch vor dem Krankenwagen da. Du weißt schon. Und dann war der Brief weg. Sie haben mich verhört, zu zweit, ob ich den Brief gelesen hätte.«
Er weinte wieder.
»Ich bin ein Versager, verdammte Scheiße! Scheiße, Scheiße!«
Er schlug gegen die Tür.
»Du musst gehen!«, sagte er plötzlich ganz klar. »Sie sind überall!«
»Das ist mir egal!«, sagte Roswitha. Und in diesem Moment meinte sie es auch so. Es war ihr egal. Scheißegal.
Die Beerdigung fand überraschend schnell statt, bereits am darauffolgenden Sonnabend. Die Sonne schien. Und in der Luft auf dem Friedhof lag Blütenduft. Es war ideales Wetter für einen Wochenendausflug. Wahrscheinlich hatten das viele gedacht, denn die Trauerhalle war nur halb gefüllt. Niemand von den Möchtegernkünstlern war gekommen. Der Sarg stand auf einem blumengeschmückten Gestell. Davor lagen zwei Kränze. »In Liebe Mutti und Vati« und »Ruhe in Frieden Tante Nora und Onkel Hans«. Die Familie hatte sie wieder. Die Tochter war heimgekehrt und konnte jetzt beweint werden. Tote können sich nicht wehren, dachte Roswitha. Der Redner sprach von einer verirrten Seele, die an einem trüben Tag mit ihrem ansonsten sonnigen Gemüt einem Irrtum erlegen war. Ein Rotkäppchen, das sich auf der Suche nach der Großmutter im dunklen Wald verlaufen hatte.
»Wir alle hätten sie gern an die Hand genommen und ihr geholfen, den richtigen Weg zu finden!«
Die Verwandtschaft schluchzte laut auf. Nach Ansicht des Redners schien das Überleben nur eine Frage des Wetters zu sein.
Das Mikrofon schnarrte. In den ersten beiden Reihen saß die Verwandtschaft, dann kamen die Kollegen und
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