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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Tisch. Der Mann fluchte und wischte das Bier mit der Handkante wieder in sein Glas. Ansonsten gab es keine Vorkommnisse. Sie tranken noch einige Biere. Irgendwann gingen sie zum Bahnhof. Zappa hatte sein Auto auf dem Vorplatz geparkt, sie hielten ihn nicht ab einzusteigen. Roswitha und Mick standen unschlüssig auf dem Querbahnsteig. Roswitha wartete darauf, dass Mick endlich etwas sagen würde, doch er wandte sich ab. Sie stiegen in einen Zug. Jeder in seine Richtung.
    Der Wal lebte noch. Die beiden Löcher an seinem Kopf, durch die er Luft holte, zitterten leicht. Sein Maul war leicht aufgeklappt. Der Unterkiefer wirkte überraschend schmal.
    Es kamen immer mehr Helfer. Gemeinsam schöpften sie, bis zum Beginn der Dunkelheit, das Wasser über den Walkörper. Dann kam langsam die Flut.
    Ein alter Mann hatte in den Dünen ein Lagerfeuer in einer zerbeulten Tonne gemacht. Eine Frau brachte eine Kiste mit Sandwichs und Cola. Sie saßen, aßen und schwiegen. Es fiel ihnen schwer, den Wal seinem Schicksal zu überlassen. Als sie gingen,drehte sich Roswitha nicht um. Sie wünschte sich, dass der Zeppelin in dieser Nacht aufsteigen und davonfliegen würde.
    Frau Pulver war tot. Am Montag nach der Beerdigung saß Roswitha wieder an ihrem Schreibtisch in der Traktorenfabrik und sah aus dem Fenster. Der Himmel über der Landschaft war rot gefärbt. Kein Zeichen. Der Produktionsdirektor, der merkte, dass Roswitha traurig war, nutzte die Gelegenheit und wollte sie schon am Mittag zum Eierlikörtrinken überreden. Roswitha wollte keinen Alkohol. In Roswithas Kopf war alles klar. Glasklar. Eine frostige Klarheit. Frau Pulver war tot. Der Kopf in der Backröhre. Roswitha wehrte sich gegen diese Vorstellung: die Klappe mit dem kleinen Sichtfenster, innen grau emailliert. Schwester! Hatte sie zuvor das Backblech herausgenommen?
    Roswitha überstand den Arbeitstag. Am Abend lag sie im Dunkeln auf ihrem Bett. Es gab keine Musik, die sie jetzt hören konnte. Es gab niemanden, mit dem sie jetzt sprechen konnte. Kein Buch. Nichts. Gar nichts. Nur Dunkelheit. Es gab keine Briefe mehr, keine Telegramme, keine Anrufe.
    Sie hatte Angst vor dem Wochenende, panische Angst. Am Freitagnachmittag trank sie freiwillig mit dem Produktionsdirektor Eierlikör. Am liebsten hätte sie sich das ganze Wochenende unter ihrem Schreibtisch versteckt oder sich in der Hauptbuchhaltung in die Nische zwischen Wand und Türflügel gesetzt. Doch irgendwann war der Eierlikör alle.
    Der traurige Produktionsdirektor und die traurige Roswitha verließen das Büro. Trotz seiner Trunkenheit fuhr der Produktionsdirektor erstaunlich sicher Auto. Roswitha ließ sich aus Gewohnheit wie an jedem Freitag am Bahnhof absetzen. Sie wusste auch nicht, was sie dort wollte. Die Schalterhalle war leer. Sieüberlegte, ob sie zu Zappa fahren sollte, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Zappa hatte seinen eigenen Schmerz.
    Und Mick? Er hatte sie allein gelassen und weder eine Karte geschrieben noch angerufen. Sie ging die Liste der Freunde durch, die sie vielleicht besuchen könnte. Doch was sollte sie sagen? »Hallo, ich bin eben mal vorbeigekommen! Können wir ein bisschen über den Tod reden?«
    Ihr fiel niemand ein, der sie in ihrem Zustand ertragen hätte. Als der Lautsprecher die Einfahrt des nächsten Zuges ankündigte, wusste sie plötzlich, was sie tun konnte. Sie rannte zum Schalter kaufte eine Fahrkarte und erreichte mit letzter Kraft den Zug. Als sie im Abteil saß, merkte sie, dass sie ihre Jacke im Werk vergessen hatte. Sie trug nichts bei sich, außer ein bisschen Kleingeld, doch das würde nicht einmal für die Rückfahrt reichen. Es war ihr egal. Selbst eine Nacht bei der Transportpolizei wäre ihr lieber, als allein in ihrem dunklen Zimmer zu sitzen. Kurz vor Mitternacht hatte sie ihr Ziel erreicht.
    Sie lief durch ein Wohnviertel. Rechts Plattenbauten, links Plattenbauten. Der Wind trieb eine leere Papiertüte über den grauen Asphalt. Der Himmel war wolkenverhangen. Kein Mond, keine Sterne, nur das kalte Licht der Straßenlaternen. Es war so trostlos, dass sie plötzlich lachen musste. Sie lief in der Mitte der Fahrbahn und lachte. Sie hatte überlebt. Der Sinn im Tod eines Menschen bestand darin, dass sich die Zurückgebliebenen lebendig fühlten. Verdammt lebendig. Sie hatte Lust zu rauchen, aber ihr fiel ein, dass ihre Zigaretten in der Jackentasche steckten. Nach einer halben Stunde Fußweg hatte sie endlich die Straße erreicht. Sie fand die Adresse sofort.

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