Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
erst dann die Freunde. Auch der Schauspielergeliebte war gekommen. Er sah sehr blass aus, seine Arme pendelten ungelenk an seinem Körper, als würden sie nicht zu ihm gehören. Für die Rolle des trauernden Kindsvaters fehlte ihm die Kraft.
Zwei Friedhofsangestellte in Uniform kamen und hoben den Sarg auf ein Metallgestell. Sie mussten sich nicht mühen.
»Sie ist nicht in diesem Sarg«, flüsterte Mick. »Niemals.«
Roswitha spürte Micks Nähe. Sie hätte ihn gern umarmt, doch sie wusste, dass sie dann weinen würde. Sie hatte sich vorgenommen, keine Schwäche zu zeigen, denn es war davon auszugehen, dass auch die Handwerker zur Beerdigung gekommen waren und sie beobachteten.
Die Friedhofsangestellten rollten den Sarg auf Gummirädern dem Ausgang zu. Erst als er kurz vor der Tür war, setzte mit einem lauten Knacken die Musik ein. Wahrscheinlich hatte jemand vergessen, den Ton anzuschalten.
Die beiden Friedhofsangestellten hoben den Sarg an, wieder mit Leichtigkeit, und schoben ihn in einen bereitstehenden Barkas. Die Tür schlug zu, und das Auto fuhr davon. Die Reifen knirschten auf dem Kies. Dann war Stille. Plötzlich kreischte ein Kind. Vor der Kapelle saß Rilke in seinem Sportwagen. Er freute sich, als er Mick und Roswitha sah, und streckte seine Arme nach ihnen aus. Doch bevor sie ihn aus dem Wagen nehmen konnten, kam Frau Pulvers Mutter. Plötzlich stand der Schauspielergeliebte hinter ihr und sagte. »Das ist mein Sohn!«
»Das hätte Ihnen eher einfallen sollen!«
»Trotzdem ist es mein Sohn!«
»Jetzt nicht mehr!«, sagte Frau Pulvers Mutter und lief eilig mit dem Kinderwagen davon.
Niemand beachtete die Freunde, die plötzlich allein gelassen vor der Kapelle standen. Die Verwandtschaft ging an ihnen vorüber. Kein Wort, keine Geste. Missachtung ist die größte Beleidigung.
Der Schauspielergeliebte wusste, dass der »Leichenschmaus« ineinem Hotel in Bahnhofsnähe stattfinden sollte. Sie suchten sich eine Selbstbedienungsgaststätte auf der anderen Straßenseite. Die Tische waren schmierig, und Mick wischte mit dem Ärmel über den Kunststoff, bevor er sein Bier abstellte. Da saßen sie nun. Zappa, Mick, Roswitha, der Schauspielergeliebte, der Bühnenmaler und noch eine Handvoll Freunde. Der Nachbar fehlte. Er war auch nicht zur Trauerfeier gekommen. Das Bier hatte keinen Schaum, was sie ja gewohnt waren, aber es schmeckte noch schaler als sonst. Roswitha zwang sich, das Glas auszutrinken, in der Hoffnung, dass sie betrunken werden würde. Doch nichts half, sie blieb nüchtern. Sie hatte das Gefühl, dass die anderen am Tisch sie für Frau Pulvers Tod verantwortlich machten. Hätte sie die Fotos nicht gefunden, wäre Frau Pulver vielleicht noch am Leben. Es war ein absurdes Gedankenspiel. Hätte sie die Schublade wieder zuschieben und tun sollen, als sei nichts geschehen? Sollte sie sich dafür entschuldigen, dass sie verraten worden war? Am meisten verletzte sie, dass Mick schwieg.
Durch das Fenster konnte Roswitha die andere Straßenseite sehen. Dort drüben war Rilke. Jetzt hatten sie, was sie wollten. Das Kind und eine Tochter, die sie sich im Nachhinein zurechtbiegen konnten. Der Schauspielergeliebte saß zusammengesunken neben Roswitha. Mick malte Muster in eine Bierpfütze, und Zappa war nur noch als Hülle anwesend. Roswitha stand auf und tat, als wolle sie auf die Toilette gehen, doch statt nach rechts ging sie nach links. Sie beobachte sich selbst wie durch eine Kamera. Sie lief über die Straßenbahngleise, die Fahrbahn, stieg die Treppenstufen zur Eingangstür nach oben. Kurz musste sie sich im Foyer orientieren, dann lief sie nach links auf die Restauranttür zu. In einer Nische stand Rilkes Kinderwagen. Roswitha riss die Tür auf und sah sich einer langen Tafel mit Trauergästen gegenüber.Alle schwiegen. Sie stand mitten im Raum und hatte vergessen, was sie sagen wollte. Aber wahrscheinlich gab es auch nichts mehr zu sagen. Sie spürte, wie sie jemand sanft an den Schultern packte und aus dem Raum zog. Es war der Schauspielergeliebte. »Es ändert nichts!«, sagte er, nahm sie an die Hand und führte sie zurück über die Straße. Mick malte noch immer mit dem Finger in der Bierpfütze. Roswitha wusste, dass seine Gelassenheit täuschen konnte. Doch er machte keine Anstalten, die Möbel durch das Lokal zu werfen, sondern blieb ruhig sitzen. Sie tranken weiter schweigend Bier und schreckten hoch, als der Mann am Nachbartisch sein Glas umstieß. Das Bier floss über den ganzen
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