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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Es war ein sechzehngeschossiges Hochhaus. Die Eingangstür stand offen, ihre Schritte hallten auf dem Betonboden. Die Wände waren ungestrichen,einfacher Waschbeton. Sie fuhr in die 14. Etage, der Fahrstuhl quietschte. Sie sah ihre Umrisse in der Aluminiumverkleidung. Als sie ausstieg die gleiche Trostlosigkeit. Sie stand in einem langen Gang, eine Tür neben der anderen. So stellte sie sich ein Gefängnis vor. Es gab keine Namensschilder. Sie suchte nach der Tür 14/36 und klopfte. Es war niemand da. Am Gangende brannte Licht. Schon von Weitem roch es nach abgestandenem Spülwasser. Überall stand schmutziges Geschirr, der Charme einer Gemeinschaftsküche. An der Decke summten die Neonröhren. Ansonsten war nirgendwo ein Geräusch. Roswitha hockte sich auf den kalten Boden.
    Sie wurde wach, als sie merkte, dass jemand eine Jacke über ihre Schulter legte. Es war Wladimir. Sie sah ihn an und sagte: »Frau Pulver ist tot.« Er setzte sich neben sie auf den Boden. Sie spürte seine Wärme, und sie schwiegen eine Zeit lang. Dann sagte Wladimir: »Es ist zu kalt hier, wir sollten ins Zimmer gehen.«
    Wie ein Kind folgte sie ihm über den Gang bis zu seiner Zimmertür. Das Zimmer war klein. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch, zwei Stühle. Roswitha spürte, dass es Wladimir peinlich war, als sie die Wände betrachtete. Überall hingen die Fotos, die sie im Tagebau gemacht hatte. Auf dem Schreibtisch stand ein Foto, das Wladimir während der Rockoperparty selbst geknipst hatte. Mick, auf dem Tresen stehend, mit schief hängender Brille, dahinter Frau Pulver auf ihrer Kiste, Bier zapfend, und im Vordergrund Roswitha, die am Tresen lehnte und spöttisch in die Kamera guckte. Fröhliche Zeiten.
    »Möchtest du etwas trinken?«, fragte Wladimir. »Wodka, Bier, Wein.«
    »Lieber Tee«, sagte Roswitha.
    Wladimir ging in die Küche. Nach einer Weile kam er zurück und guckte verlegen. »Es war etwas schwierig mit dem Tee. Das ist hier eine Männerwirtschaft.« Er reichte ihr eine Tasse. »Es ist ein Versuch!« Roswitha kostete und stutzte. Der Geschmack kam ihr bekannt vor. Richtig! Majoran! »Du hast doch nicht etwa?«
    »Doch«, sagte Wladimir. »Was sollte ich denn machen?«
    Es war der erste Majorantee in ihrem Leben. »Gar nicht schlecht«, sagte Roswitha, um Wladimir zu trösten. Und es war das zweite Mal in dieser Nacht, dass sie lachen musste.
    Sie schlief in Wladimirs Bett. Er selbst lag auf einer Isomatte und mit Schlafsack in dem schmalen Gang davor. Sie hörte seinen Atem, und sie fragte sich, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen sollte. Und gleichzeitig fragte sie sich, ob sie aus dieser Situation wieder herauskommen wollte?
    Als sie wach wurde, war es schon hell. Wladimir lag nicht mehr neben dem Bett. Sie schloss wieder die Augen. Und plötzlich hörte sie Musik, ganz leise, aber doch präsent.
    Sie kam sich vor wie nach einer schweren Krankheit. Ein Patient, der erstmals wieder Nahrung zu sich nimmt, Löffel für Löffel, Ton für Ton. Es waren kurze Cellostücke, und sie fürchtete in den Pausen zwischen den einzelnen Sätzen, dass die Musik zu Ende sein könnte. Die Töne hatten eine wehmütige Ordnung, fast mathematisch, und doch waren sie nicht berechenbar. Die Motive wiederholten sich, immer wieder die gleichen Tonwechseln, wie bei einer Mutter, die ihrem Kind liebevoll etwas erklärt. Doch dann änderte sich unerwartet das Tempo. Roswitha stellte sich Noten vor, die sich an der Hand hielten, brav in Zweierreihe eine Straße entlanggingen, dann eine Wiese sahen und ausgelassen zu tanzen begannen.
    Roswitha stand auf, um nach der Plattenhülle zu suchen. Es war eine tschechische Schallplatte, Bachs Cellosuiten, gespielt von Mstislaw Rostropowitsch, aufgenommen während eines Konzerts des Musikfests »Prager Frühling« 1955.
    Sie hatte gedacht, Bach hätte immer nur für Klavier oder Orgel komponiert. Sie leistete Abbitte und kam sich vor wie jemand, der die verschollenen Noten in einem Antiquariat entdeckt hat.
    Roswitha ging zum Fenster. Von der 14. Etage aus hatte sie einen weiten Blick in die Landschaft. Sie sah auf die flachen Dächer der Plattenbauten, Bauklötze, die zu Parallelen, Quadraten oder Rechtecken angeordnet waren. Irgendwo am Horizont war der Tagebau. Auf der Straße vor dem Hochhaus hielt ein Ikarusbus. Etwa dreißig Menschen stiegen ein, etwa dreißig Menschen stiegen aus, Schichtwechsel an der Bushaltestelle. Metropolis war überall.
    Sie drehte die Platte um, legte sich

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