Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
bekommt«, fuhr die Stimme fort. »Ich meine, was ist denn das für ein Leben, den ganzen Tag in dunklen Fluren herumsitzen und sich darum kümmern zu 246
müssen, daß niemand flieht? Ich finde, daß er unter solchen Umständen sehr gut damit klarkommt. Au-
ßerdem ist er wirklich ein feiner Kerl. Wie er mir einmal erzählt hat, sammelt er Schmetterlinge. Oder war das sein Ururgroßvater gewesen? Manchmal blickt man einfach nicht mehr durch.«
Guy stellte fest, daß er plötzlich keine Lust mehr hatte zu schreien; eine Folge leiser Schluchz- und Klagelaute schien weit angebrachter zu sein, und er merkte, daß dies dem Fremden auch sehr viel angenehmer war.
»Ist ja gut, mein Freund«, tröstete ihn der Fremde.
»Wenn ich Sie mal etwas fragen darf, und glauben Sie bitte nicht, daß ich zu neugierig erscheinen will, aber wie sind Sie eigentlich hier reingekommen?«
»Ähm, ich …«, stammelte Guy; das zu erklären dürfte nicht leichtfallen. »Sie werden es mir nicht glauben, aber ich bin …«
»Halt, sagen Sie es mir nicht!« unterbrach ihn der Fremde. »Sie haben meinen Tunnel gefunden.«
»Wie bitte?«
»Sie sind doch aus der anderen Zelle gekommen«, antwortete die Stimme. »Haben Sie den Tunnel denn nicht entdeckt, den ich gegraben habe?«
Guy entschied sich, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Letztendlich konnte er von einem Mann, der die vergangenen zehn Jahrhunderte in einem Gefängnis verbracht hatte, nicht allzuviel erwarten. »Ja, natürlich.«
»Habe ich’s mir doch gedacht. Sie sind durch den 247
Tunnel gekommen, haben geglaubt, er würde ins …
ins … Wie nennt man das noch mal? Ah ja! … ins Freie führen, und als Sie herausgefunden haben, daß er hier hineinführt, sind Sie verständlicherweise enttäuscht gewesen und dann … Na, das Ganze war eben ein wenig zuviel für Sie, nicht wahr? War’s ungefähr so?«
»Ja, genau so war’s. Aber wo genau bin ich denn eben reingekommen? Es ist schwierig, sich in dieser Dunkelheit zu orientieren.«
»Finden Sie?« fragte die Stimme. »Ehrlich gesagt kann ich es mir schwer vorstellen, daß es nicht dunkel ist, aber vielleicht liegt das nur daran, daß ich mich ganz gut daran gewöhnt habe. Ich nehme an, daß Sie da vorne reingekommen sind, wo der Luftzug herkommt.
Ein wunderbarer Luftzug ist das, finden Sie nicht?
Haben Sie in Ihrer Zelle auch so einen schönen Luftzug, wenn ich fragen darf?«
»Wie bitte?«
»Na, in der Zelle, aus der Sie gerade gekommen sind.«
»Ach so. Ja, natürlich zieht es dort. Ein wunderbarer Luftzug. Ähnlich wie hier, nur noch besser.«
»Ach, wirklich?« Es war ganz so, als klänge ein wenig Neid in der Stimme des Fremden mit. »Das muß schön sein. Trotzdem kann ich mich nicht beschweren. Der Luftzug hier ist für meine Zwecke völlig ausreichend.«
Das schien die Unterhaltung für eine Weile zu be-248
enden, und Guy fühlte sich allmählich unwohl. Er kroch auf die Stelle zu, von der der Luftzug kam, entdeckte die Wand und klopfte sie mit den Händen ab. Sie war glatt und eben – kein Anzeichen von einer Tür –, und er spürte, wie er erneut kurz vor einem Tobsuchtsanfall stand.
»Haben Sie auch eine Ratte in Ihrer Zelle?« fragte die Stimme.
»Eine Ratte? Nein, das kann man so direkt nicht sagen.«
»Das tut mir aber leid für Sie. Ich finde, sie spenden einem sehr viel Trost. Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer Ratten gehabt. Glauben Sie mir, man könnte fast eher behaupten, die Ratten hätten mich gehabt; manchmal kann man gar nicht mehr unterschei-den, wer hier das Herrchen und wer das Rättchen ist.«
Ein sanftes Lachen war zu hören. »Unglaublich selbständige und eigenwillige Kreaturen sind das.
Wirklich toll.«
Der Fremde schien in eine Art Tagtraum zu versin-ken – der sich wahrscheinlich um die ungeheure Cha-raktervielfalt von Ratten oder um etwas Ähnliches drehte –, und Guy spürte erneut, wie er in der Stille von Angst beschlichen wurde. Natürlich gefiel ihm das alles nicht; andererseits hatte er aber auch keine Lust mehr, sich erneut über Ratten, Luftzüge oder ähnliche Knastprobleme zu unterhalten, und hielt es deshalb für eine gute Idee, etwas zu singen.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich singe?« fragte er den Fremden.
249
»Singen? Nein, wieso sollte ich? Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Ich habe seit zig Jahren niemanden mehr singen hören … Mensch, wie hieß der Kerl noch mal? Er hat hier als Aushilfswärter gearbeitet.
Das muß jetzt
Weitere Kostenlose Bücher