Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
schon sechshundertdreißig, wenn nicht sogar sechshundertfünfzig Jahre hersein. Er sang hin und wieder, wenn er das Essen brachte und …«
»Ach so? Das klingt ja sehr interessant«, unterbrach ihn Guy; in Wirklichkeit interessierte es ihn einen feuchten Kehricht, was vor sechshundertund-fünzig Jahren geschehen war. »Also schön, dann werde ich jetzt etwas singen. Einverstanden?«
»Das würde mich wirklich freuen«, ermunterte ihn die Stimme höflich.
Guy räusperte sich und überlegte verzweifelt, was er bloß singen könnte. Er hatte sich gerade für They Say There’s a Wimpey Just Leaving Cologne entschieden, als von draußen ein Geräusch zu hören war, ein ziemlich vertrautes Geräusch sogar. Eine Stimme sang:
»L’Amours Dont Sui Epris
Me semont de chanter;
Sifais con hons sopris;
Qui ne puet endurer …«
Guys Kinnlade klappte herunter. Blondel! Die Stimme gehörte unverkennbar zu Blondel, und das Lied –
nun, er hatte es in letzter Zeit häufig genug gehört.
Das mußte Blondel sein!
250
»Donnerwetter!« staunte der Fremde leise.
»A li sont mi penser
Et seront a touz dis;
]a nes en quier oster …«
Für den Bruchteil einer Sekunde war sich Guy nicht ganz sicher, ob er sich daran erinnern konnte, wie das Lied weiterging, doch dann sang er selbst – laut, heiser und falsch.
»Remembrance dou vis
Qu’il a vermoil et clair
A mon euer a ce mis
Que ne l’en puis oster …«
»Entschuldigung, aber dürfte ich vielleicht mal etwas fragen? Ist das nicht … ?« meldete sich der Fremde zu Wort.
Doch Guy brachte unbeirrt die letzten Worte der zweiten Strophe heraus und wartete dann mit atemloser Spannung ab, bis erneut Blondels Stimme ertönte, die immer näher kam und jetzt laut, klar und fröhlich klang.
»Plus bele be vit nuls
De le nors ne de vis;
Nature ne mist plus
De beaute en nul pris …«
Der Fremde räusperte sich, als wollte er dem, was er 251
seinem neuen Zellenpartner zu sagen hatte, mehr Nachdruck verleihen, doch Guy hörte ihm sowieso nicht zu und sang unverdrossen und furchtbar falsch:
»Or serai ses amis
Or pri Deu de la sus
Qu’a lorfin soie pris …«
Als die Tür aufsprang und sehr schwaches, fahles Licht hereinfiel – das womöglich von den Sternen oder vom Mond herrührte –, kroch er auf allen vieren durch die Zelle und schrie: »Blondel! Bist du’s?«
»Ach, du bist da drin, Guy?« fragte Blondel von draußen zurück. »Dann komm endlich. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Guy stürzte sich auf die Tür, die sich bereits von selbst zu schließen begann, und schaffte es gerade noch rechtzeitig, durch sie hindurchzuschlüpfen, bevor sie sich mit einem deutlich vernehmbaren Klicken schloß und genauso schnell verschwand, wie sie erschienen war.
In der Zelle herrschte sehr lange Totenstille. Lediglich das Geräusch einer Ratte war zu hören, die überall herumschnüffelte, sich hin und wieder be-trübt am Ohr kratzte und leise Piepslaute von sich gab, als verlangte sie, gefüttert zu werden.
»Ach, was soll’s?« fragte die Stimme. »Hier, Rättchen, komm, ich habe eine leckere Brotkruste für dich. Na, wie macht die brave Ratte?«
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Es war ein kalter Morgen an diesem schicksalhaften Tag an den Ufern des Rubikon, jenes kleinen Flusses, der die Provinz Gallien von Italien trennte, und Julius Cäsar schlug den Mantelkragen hoch. Niemand sollte sehen, daß er am ganzen Körper zitterte, weil es sonst womöglich geheißen hätte, er habe Angst.
»Alles fertig?« fragte er den Kommandanten der Kavallerie. Der Soldat nickte nur als Antwort; ihm war nicht zum Reden zumute. Das gesamte Heer verhielt sich unnatürlich ruhig, als wüßte es, daß die Weltgeschichte vor einem entscheidenden Wendepunkt stand.
Um es ganz genau auszudrücken, wußten bereits alle, daß die Weltgeschichte vor einem entscheidenden Wendepunkt stand; lediglich die Form dieses Wandels sollte sich für alle als ein Schock erweisen, auch für Julius Cäsar.
Kurz vor Mittag rief Cäsar seine engsten und ver-trautesten Freunde und Unterstützer zu einer Versammlung zusammen. Regen hatte sich eingestellt; der kalte, feindselige gallische Regen, den Cäsar nur zu gut kannte. Er deutete auf eine Eiche, die zumindest einigermaßen Schutz vor den Naturgewalten bot, und so wurde dort der historische Kriegsrat ab-gehalten.
Cäsar war natürlich fast völlig kahlköpfig; obwohl er sich, als einziges Zugeständnis an seine Eitelkeit, redlich Mühe gab, die wenigen noch
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