Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
Sir.«
»Sehr schön. He, Sie da, wie immer Sie auch hei-
ßen!«
235
Pursuivant blickte von seinen Notizen auf und schlug unter dem Tisch gehorsam die Hacken zusammen. »Ja, Euer Ehren?«
»Ist das da das Gerichtsprotokoll?« verlangte der halbe Mann zu wissen.
»Ja, Euer Ehren.«
»Geben Sie es mir.«
Pursuivant klappte das Notizbuch zu und übergab es dem halben Mann, der es sofort aufschlug und ein paar Seiten davon zwischen den Zähnen festhielt.
Dann legte er seinen längs gespaltenen Schädel in den Nacken und zog daran. Die Blätter wurden aus der Spiralhalterung gerissen, und der halbe Mann stopfte sie sich in den halben Mund, zerkaute sie kräftig mit dem halben Satz Zähne und schluckte alles hinunter.
»Igittigitt«, war alles, was er dazu sagte.
»Sir!« protestierte Pursuivant, und er machte dabei solche Glupschaugen, daß er wie eine aufgeschreckte Heuschrecke aussah. »Das können Sie doch nicht einfach tun!«
Der halbe Mann blickte ihn eindringlich an. Zu dem Blick selbst gibt es eigentlich nur soviel zu sagen, daß sich Pursuivant einige Stunden später freiwillig im Krankenrevier meldete und verlangte, sein Gedächtnis zu löschen, wobei er seiner Forderung mittels eines mit Nägeln besetzten Knüppels Nachdruck verlieh.
»Das nächste Mal benutzen Sie gefälligst keinen Bleistift, das schmeckt ja furchtbar«, beschwerte sich 236
der halbe Mann. »Ach, hält’s Maul, Julius! Du ver-stauchst dir sonst noch die Hände. Also gut, Chefwächter. Ich meine, John«, korrigierte er sich. »Oder, besser, Jack, mein alter Freund. Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, daß Sie ein Blondel-Fan sind?«
»Na ja, Sir, ich …«
»Tony. Nennen Sie mich einfach Tony«, sagte der halbe Mann.
»Also gut, Tony. Ich hätte niemals gedacht … Ich meine, unter diesen Umständen wäre ich nie darauf gekommen, daß es wichtig sein könnte, welche Musik …«
»Unsinn«, unterbrach ihn der halbe Mann. »Nur weil ich mit dem Burschen nicht immer einer Meinung bin, heißt das noch lange nicht, daß ich seine Musik nicht mag. Und auch wenn ich nur ein Ohr habe, so kann ich doch sehr gut hören. Gace Brule spielt wirklich das Schlagzeug?«
Der Chefwächter nickte. »O ja. Da gibt es diese unglaubliche Passage in dem Lied Quand flours et glais, und zwar der Übergang zum Refrain, wo …«
»Cadenet singt da doch mit, stimmt’s?«
»Richtig, und bei San’c fiiy belha singen die beiden sogar im Duett.«
Eine Weile herrschte Schweigen, das nur durch das Summen von zwei – anderthalb – Männern unterbrochen wurde. Julius blickte die beiden vorwurfsvoll an und schüttelte betrübt die Köpfe.
»Jedenfalls sind diesem Gericht nur unzulängliche 237
Beweise für die vorgebrachten Anklagepunkte vorgelegt worden, und deshalb wird entschieden, daß das Verfahren auf unbestimmte Zeit verschoben wird.
Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann jederzeit beantragt werden, jedenfalls mit meiner Einwilli-gung.« Er versuchte, dem Angeklagten zuzuzwin-kern, was logischerweise kläglich mißlang. »Und lassen Sie sich das eine Lehre sein, Chefwächter.«
»Ja, Sir.«
Der halbe Mann erhob sich. An dieser Stelle sei erwähnt, daß er sich auf sehr merkwürdige, man könnte sogar sagen, auf geradezu mysteriöse Art bewegte; die vorhandene Hälfte des Körpers bewegte sich so, als wäre die andere Hälfte auch da. »Alle aufstehen!« forderte er die anderen auf. »Komm schon, Julius, ihr beiden auch. Koch uns Kaffee, oder tu sonst was Sinnvolles. Und Sie dahinten, wie immer Ihr Name ist, auch!
Kümmern Sie sich mal darum, ob Sie diesen dämlichen Fahrer über Funk erreichen können. Und jetzt zu uns, Jack …«
Der Gegenpapst und sein vorhergehendes Leben zuckten die Achseln und machten sich in trauter Ein-tracht auf die Suche nach einem Wasserkessel. Pursuivant, der mental völlig am Ende war, entdeckte unter einer Treppe einen Schrank und zog es vor, sich schlafen zu legen. Kurz darauf dröhnte aus dem Büro des Chefzeitwächters in voller Lautstärke und im perfekten Dolby-Surround-Sound Blondels L’Amours Dont Sui Epris .
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Falls irgend jemand – mit Ausnahme der anderthalb Männer im Büro natürlich – die zweite Strophe mitsang, dann konnte das niemand hören.
Der Kellner, der ihm einen Eiskaffee und ein Glas Wasser gebracht hatte, kam Blondel bekannt vor, und er erkundigte sich nach seinem Namen.
»Spiro«, antwortete der Kellner.
»Aha, Spiro also. Und weiter?«
»Maniakis. Ist das denn
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