Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
wichtig?«
»Hat Ihre Familie unten in der Nähe von Mistra vor einiger Zeit Ackerbau und Viehzucht betrieben?«
fragte Blondel. Als ihn der Kellner verdutzt anblick-te, fügte er erklärend hinzu: »Sie müssen schon entschuldigen, aber Sie erinnern mich an jemanden, den ich früher mal gekannt habe.«
»Wirklich?« Der Kellner blickte ihn jetzt noch be-fremdeter an als zuvor. »Vor etwa einhundert, vielleicht auch hundertfünfzig Jahren lebte die Familie meiner Mutter in einem kleinen Dorf, das ganz in der Nähe von Mistra liegt. Aber wie kommen Sie darauf?«
Plötzlich fiel Blondel wieder ein, an wen ihn der Kellner erinnerte. »Ach, das war ein Irrtum. Tut mir leid, ich wollte Sie wirklich nicht belästigen.«
Der Kellner zuckte die Achseln und ging, leise vor sich hin pfeifend, an den Tresen. Die Melodie, die er pfiff, war zufällig eine sehr freie Interpretation von L’Amours Dont Sui Epris . Das Lied war ihm einst von seiner Urgroßmutter beigebracht worden.
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Blondel trank rasch den Kaffee aus und verließ gleich darauf das Lokal.
Ein ganz schön anstrengender Tag ist das bislang gewesen, sagte er sich, als er zum Rathaus zurückging.
Er konnte wirklich von Glück reden, daß er Sekundenbruchteile vor der Explosion der Bohrinsel die Tür mit der Aufschrift Zutritt nur für Personal entdeckt hatte.
Natürlich war es gut, nicht mehr in den Archiven gefangen zu sein, doch machte es ihm noch immer stark zu schaffen, daß er jemanden die zweite Strophe hatte singen hören. Natürlich konnte es sich dabei um puren Zufall gehandelt haben, doch hatte er das sichere Gefühl, daß in den Archiven nichts zufällig geschah, auch wenn ihm zur Untermauerung dieser These die wissenschaftlichen Daten fehlten. Vielleicht hatte es auch nur etwas mit der Atmosphäre da unten zu tun gehabt oder womöglich gar mit einer anderen vermißten Person, nach der auch gesucht wurde – so viele Fragen und keine Antworten.
Er blickte auf die Uhr. In etwa zwanzig Minuten wollte er das Lied in den Ruinen der Kreuzritterburg im Vorgebirge zum besten geben; dann (falls es keine Reaktion geben sollte) wollte er sich den Rest des Tages in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begeben, wo in seiner Liste ein paar Schlösser und Burgen am Rhein eingetragen waren; und danach, sollte alles glimpflich verlaufen sein, könnte er endlich ins Bett gehen – mit der Perspektive, von nun an 240
zwei, anstatt eine Person suchen zu müssen, die in der Geschichte verlorengegangen waren. Andererseits, positiv betrachtet, verdoppelten sich dadurch seine Chancen. Negativ betrachtet, könnte man auch anführen, daß doppelte Scheiße im Endeffekt nichts anderes als einfache Scheiße blieb.
Auf dem Weg zum Vorgebirge entschied er sich, einen kleinen Abstecher zum Marktplatz zu machen, einfach so zum Spaß. Schließlich waren mittlerweile mehr als neun Monate und siebenhundert Jahre vergangen, seit er das letztemal hiergewesen war – und vor Ewigkeiten war er hier schon einmal fünfzig Jahre weiter in der Zukunft als heute gewesen. Es interessierte ihn nun einmal, welche Veränderungen in den Städten, die er aufsuchte, stattgefunden hatten.
Ob wohl in der Straße gegenüber der Kirche mittlerweile das riesige Schlagloch zugeschüttet worden war?
Nachdem er sich auf dem Markt eine Tüte Nüsse gekauft hatte, spazierte er gemütlich den Hang hinauf.
Kurz bevor er den Treppenaufgang zur Burg erreichte, winkte ihm jemand von weitem zu – ganz belanglos, als wollte dieser Jemand einem entfernten Bekannten einen guten Tag wünschen – und ging dann weiter. So etwas war für Blondel natürlich eine äußerst seltene Begebenheit. Also blickte er sich noch einmal um und versuchte das Gesicht zwischen den vielen Fußgängern, Motorrädern und Autos ausfindig zu machen, die sich dort unten an der Kreu-241
zung drängten. Gerade als er die ganze Angelegenheit abschreiben wollte (wahrscheinlich handelte es sich wieder einmal um einen sehr entfernt verwand-ten Vetter), winkte der Mann erneut zu ihm herüber.
Vor Schreck ließ Blondel die Tüte mit den Nüssen fallen und seufzte: »Ach, du dickes Ei!«
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7. KAPITEL
allo, ist da jemand?« flüsterte Guy ängstlich.
H In der Dunkelheit bewegte sich etwas; etwas Kleines mit vier Beinen. Guy, der eigentlich nicht zu jenen Menschen gehörte, die sich leicht von ihren Grundsätzen abbringen ließen, fragte sich nichtsdestotrotz, ob er das Richtige getan hatte. La Beale Isoud war zwar nicht nach seinem
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