Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
Geschmack, doch immerhin war sie nicht vierbeinig, und soweit er wußte, kroch sie auch nicht in dunklen Räumen herum.
»Hallo, ist da jemand?« fragte eine Stimme in der Finsternis zurück.
Guy hatte das Gefühl, daß ihm jemand den Text ge-klaut hatte, und stammelte verlegen: »Ja … ähm …«
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, forderte ihn die Stimme auf, wobei sie sich ganz so anhörte, als wenn sie es ernst meinte. »Vor der Ratte brauchen Sie keine Angst zu haben, die beißt nicht. Sie ist die Kusine von einer Ratte, die ich sehr gut gekannt ha-be.«
»Ach so?«
»Ja, im Ernst. Die Ratten hier sind alle eng mitein-243
ander verwandt. Über Generationen schon. Trotzdem scheint sich das in keiner Weise negativ auf sie aus-zuwirken. Wenn überhaupt irgendwas, dann sind sie dadurch allenfalls ungewöhnlich zahm und freundlich geworden.«
»Aha, sehr schön«, antwortete Guy leicht verwirrt.
»Gibt es hier irgendwo Licht?«
»Leider nein. Sind Sie aus der Nachbarzelle?«
Guy bekam eine leichte Gänsehaut. »Wie bitte?
Haben Sie eben Zelle gesagt?«
»Ja, allerdings.«
»Wollen Sie etwa damit sagen, daß das hier ein Gefängnis ist?«
Es entstand ein kurzes Schweigen. »Jedenfalls hat man mich das die ganze Zeit glauben lassen«, sagte schließlich die Stimme. »Und, ehrlich gesagt, kommt es mir hier auch ganz wie in einem Gefängnis vor.«
»Ah ja.« Guy hielt für einen Moment inne und dachte darüber nach. »Also sind Sie hier schon lange?«
»Ja, sehr lange sogar.«
»Wie lange?«
»Das ist allerdings eine gute Frage«, seufzte die Stimme. »Mal sehen … fünf, zehn, zwanzig, fünfundzwanzig … ich bin hier jetzt seit etwa tausend Jahren.«
Unbeabsichtigt rutschte Guy ein ungläubig staunender Laut heraus. Eigentlich hatte er sagen wollen:
›Aber für einen Menschen ist es doch unmöglich, tausend Jahre lang zu leben, erst recht nicht in einem 244
solchen Raum.‹ Doch außer diesem Laut brachte er nichts heraus.
Dennoch schien der Urheber der Stimme das Wesentliche verstanden zu haben, denn er fuhr fort, als wäre er von dieser Tatsache selbst etwas überrascht:
»Das kommt einem ewig lange vor, nicht wahr?
Trotzdem ist es schon verwunderlich, wie schnell man sich daran gewöhnt. Irgendwann vergeht die Zeit wie im Flug.
Natürlich bin ich nicht die ganze Zeit hier in der Zelle gewesen.«
»Ich wollte Sie gerade danach fragen«, warf Guy erleichtert ein.
»Etwa … neunhundertneunundneunzig Jahre und elf Monate habe ich in der Nachbarzelle verbracht.
Dann bin ich hierher verlegt worden. Ich muß ehrlich zugeben, daß das eine erhebliche Verbesserung war.«
»Ah ja, eine erhebliche Verbesserung also«, wiederholte Guy. Obwohl es stockdunkel war, sendeten ihm seine Sinne eine ganze Reihe von Berichten ihrer ersten Wahrnehmungen, die allesamt negativ aus-fielen.
Höchstwahrscheinlich sagten sie ihm nur, daß es hier tatsächlich stockdunkel sei, was bestimmt nicht gerade sehr ermutigend für Guy gewesen sein dürfte.
»Vor allem ist es hier viel geräumiger als in der alten Zelle«, fuhr die Stimme schwärmerisch fort. »Da vorne, wo es etwas zieht, ist sogar eine Stelle, wo man fast aufrecht stehen kann. So was nenne ich Luxus.«
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Zu seinem großen Entsetzen mußte Guy feststellen, daß die Stimme keineswegs ironisch geklungen hatte.
Weit gefehlt sogar.
»Es war wirklich furchtbar nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er, »aber ich fürchte … Ojemine! Ist es wirklich schon so spät? Ich sollte mich jetzt lieber wieder auf die Socken machen.«
Stück für Stück bewegte sich Guy vorsichtig zur Tür zurück, durch die er eben gekommen war, doch sie war nicht mehr da. Unter Einsatz des Tastsinns unternahm er eine schnelle, aber dennoch gewissen-hafte Untersuchung, und als er zu dem Schluß gelangte, daß sich die Tür samt Griff und Angeln aus dem Staub gemacht haben mußte, bekam er einen Tobsuchtsanfall.
»Ist ja gut«, besänftigte ihn die Stimme, und zwei Hände packten ihn fest an den Schultern. »Sie dürfen sich nicht so aufregen. Das bringt jetzt auch nichts mehr, außerdem verärgern Sie damit nur den Wärter.
Um diese Zeit hält er gern seinen Nachmittagsschlaf, und der arme Kerl hat es hier wirklich nicht leicht …«
Guy brach mitten im Schreien ab. Wer immer dieser Verrückte auch sein mochte, er war allen Ernstes um das Wohlbefinden des Wärters besorgt. Das konnte man an seinem Tonfall hören.
»Ich glaube nicht, daß er hier sehr viel Gehalt
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