Wenn du lügst
jemand in einem Auto ohne Bremsen beobachten, das immer schneller wird. Vielleicht lässt es sich nicht mehr stoppen. Das ist auch die Überzeugung meiner Frau. Manchmal glaube ich, dass das Ganze schon besiegelt war, als sie sich mit dem Kerl eingelassen hat.« Seufzend stand ich auf. Mir wollte einfach nichts einfallen. Aber vermutlich würde ich wissen, was ich sagen sollte, wenn ich erst einmal dort war.
Wir gingen durch den großen Hauptraum an Reihen von Menschen vorbei, die in ihren Nischen arbeiteten. Niemand schenkte uns weiter Beachtung - ich vermute, Besucher waren hier normal. Den ganzen Weg über nährte ich die verrückte Hoffnung, dass es nicht Jena sein würde, aber als wir um die letzte Trennwand herumkamen, war sie da: in der letzten Nische in der Ecke im hintersten Teil des Raums.
Ich blieb abrupt stehen, war für einen Moment fassungslos. Es war Jena, obwohl ich bezweifelte, dass ich sie auf der Straße erkannt hätte. Die Frau, die dort an ihrem Schreibtisch saß und zu Boden starrte, war zaundürr und trug ein formloses Kleid mit langen Ärmeln. Ihre Haare waren schon länger nicht mehr gewaschen worden und hingen ihr kraftlos auf die Schultern. Das traf mich am meisten. Als Kind war ihr Haar lohfarben und voll gewesen, und ich hatte immer gefunden, dass es wie eine Löwenmähne aussah. Jetzt war es matt und
ungewaschen, und eine Seite wirkte länger als die andere, so als ob sie es achtlos selbst geschnitten hätte.
Sie trug kein Make-up. Nichts an ihr ließ erkennen, dass sie sich pflegte und auf sich achtete oder auch nur den geringsten Gedanken darauf verschwendete, wie sie auf andere wirkte. Sie hatte einen Punkt erreicht, an dem sie sich nicht mehr um eine Fassade bemühte. Dave wollte etwas sagen, aber ich schüttelte den Kopf und winkte ihn fort. Ich ging zu Jenas Schreibtisch, dann verharrte ich, unsicher, was ich als Nächstes tun sollte.
Obwohl ich direkt neben ihr stand, blickte Jena nicht auf. Ich kniete mich neben sie, und schließlich sah sie dann doch hoch, wenn auch mit einem alarmierten Ausdruck in den Augen. Das Gesicht hatte die Umrisse von Jenas, schien aber trotzdem nicht ihres zu sein. Die Augen waren größer als in meiner Erinnerung - oder vielleicht war das Gesicht einfach schmaler -, und anstelle von Pupillen schienen sie endlose, dunkle Zentren zu haben, ausgetrocknete Brunnen ohne Glanz oder Licht, die keine Hoffnung und keine Zuflucht kannten. Die Dunkelheit in ihnen war nicht von der Art, die mit schelmischem Übermut einhergeht, sondern wirkte abgestumpft und nach innen gekehrt, so wie man sie nur in den Gesichtern von Menschen findet, die mit brutalen Personen zusammengelebt haben.
Auch ohne dass sie sprach, fühlten meine Handflächen etwas Weiches und - ich weiß nicht - Mattes über sich hinwegstreifen. Ich konnte noch nicht einmal mehr genug Lebensenergie in dieser Frau spüren, um eine Kerze am Brennen zu halten. Dennoch schwamm Wiedererkennen in ihren Augen - und seltsamerweise ein
Hauch von Angst. Sie blickte sich um, als befürchtete sie, jemand könnte mich sehen.
»Hallo, Jena«, sagte ich sanft. »Lang nicht gesehen. Geht’s dir gut?« Dann streckte ich ohne nachzudenken die Hand aus, um ihren Arm zu berühren.
Sie zuckte unwillkürlich und mit Panik in den Augen zurück, und ich begriff, dass tröstende Gesten sie längst nicht mehr erreichen konnten. Sie wollte auf keinen Fall angefasst werden.
»Okay«, sagte ich und zog meine Hand zurück. »Wir müssen reden. Dave hat uns sein Büro angeboten, oder wir könnten einen Spaziergang machen.«
Sie schüttelte wortlos den Kopf und sah wieder nach unten. »Warum nicht?«
»Ich kann nicht«, sagte sie sehr leise. Ihre Stimme war heiser und schwach, und ich konnte sie kaum sehen.
»Jena, ich habe mit Dave gesprochen, und er hat mir ein bisschen von dem erzählt, was mit dir passiert. Ich verspreche, dass ich dich nicht bearbeiten werde, Dinge zu tun, die du im Moment nicht tun kannst, deshalb darfst du bitte nicht glauben, dass es genauso sein wird wie mit ihm oder dem Detective. Aber ich werde dieses Büro nicht verlassen, solange wir nicht geredet haben. Falls Jerry anruft, wird Dave ihn genauso durchstellen, als ob du an deinem Arbeitsplatz wärst. Im Notfall werde ich dir nach Hause folgen und an deine Tür klopfen, wenn du nicht mit mir kommst.«
Es war brutal und unfair, aber ich wusste keinen anderen Weg.
Sie seufzte, dann legte sie ganz behutsam ihren Stift weg. Sie arrangierte ihn
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