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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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zweimal um, bevor sie zufrieden
schien, dass er jetzt an der rechten Schreibtischkante am richtigen Platz war, dann stand sie steifbeinig auf und sah mich abwartend an. Was Dave in Sachen Zombie gesagt hatte, war kein Scherz gewesen. Zum zweiten Mal war ich fassungslos. War dies wirklich ein Mensch aus Fleisch und Blut? Ich drehte mich um und marschierte zurück zu Daves Büro, während Jena mir gehorsam folgte.
    Dort angekommen, zog ich für sie den großen Schreibtischsessel hervor, aber sie starrte ihn nur an und wich zurück. Sie holte sich den einzigen anderen Stuhl im Raum, einen kleineren für Kunden, und nahm sehr vorsichtig Platz. Sie strich ihren Rock glatt und saß ganz still. Ich konnte mich nicht auf den großen Stuhl setzen und über ihr thronen, deshalb hockte ich mich vor sie auf den Boden. Ich achtete sorgsam darauf, sie nicht zu berühren.
    Ich überlegte, wo ich anfangen sollte, als Jena plötzlich sagte: »Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.« Ihre Stimme war noch immer heiser und schwach.
    »Ich weiß.«
    »Mir war klar, dass du kommen würdest«, fuhr sie fort. Ich wunderte mich, dass sie mich nicht fragte, wie ich sie gefunden oder was mich überhaupt hierher geführt hatte. Wusste sie, dass ihre Tochter mich angerufen hatte? Irgendwie glaubte ich das nicht.
    »Ich habe auf dem Weg hierher an Clark gedacht«, sagte ich.
    Sie erwiderte nichts, wartete einfach.
    »Weißt du noch, wie wir an manchen Sommerabenden auf deinem Dach gesessen sind? Erinnerst du dich,
als dein Vater weg war und deine Mutter auf gewisse Weise auch und wir heimlich aus deinem Fenster und auf den Dachfirst geklettert sind, wo wir uns dann festgehalten haben? Ich hab mir vor Angst fast in die Hose gemacht. Ich habe mich immer gewundert, dass es dir überhaupt nichts auszumachen schien. Ich bin trotzdem mitgekommen, weil ich nicht zugeben wollte, wie viel Schiss ich hatte, und außerdem wollte ich die Geschichten hören. Erinnerst du dich? Wie du mir damals vom K2, vom Annapurna und den ganzen großen Expeditionen erzählt hast?«
    Ich wusste nicht, warum ich davon sprach, nur, dass das die Jena war, die ich kannte, und wir uns, wenn sie sich daran erinnerte, wer sie gewesen war, vielleicht wieder annähern könnten. Ganz sicher wusste ich nicht, wer sie jetzt war, und ich fragte mich, ob sie es wohl wusste. Ein unbestimmtes Flackern huschte über ihr Gesicht. Gut möglich, dass ihr Gehirn inzwischen geschädigt war, aber es war noch nicht alles weg. Sie hatte mich wiedererkannt und war besorgt, wie sie auf mich wirkte, und auf jeden Fall funktionierte ihr Langzeitgedächtnis noch.
    »Ich erinnere mich«, sagte sie sehr sanft.
    »Ich habe es geliebt, wenn du vom Himalaja gesprochen hast. Sogar damals war es so, als ob du die Berge persönlich kennen würdest. So wie du die Geschichten erzählt hast, waren die Berge die wirklichen Stars, nicht die Bergsteiger. Weil sie für dich so real waren, kamen sie mir selbst realer vor als manche Menschen, die ich kannte. Bist du irgendwann mal dort gewesen?«
    »Nicht zum Bergsteigen«, sagte sie wehmütig. »Ich
bin viel in Südamerika geklettert, aber ich hatte nie das Geld für eine Himalaja-Expedition.« Ich musste mich anstrengen, um sie zu verstehen, aber wenigstens redete sie.
    »Bis auf welche Höhe bist du in Südamerika gekommen?«, fragte ich.
    »Viertausendachthundert Meter.« Ein flüchtiger Ausdruck von Stolz huschte über ihr Gesicht, was mich erstaunte. Mich durchzuckte etwas, das sich stark wie Hoffnung anfühlte.
    »Wie war es?«, fragte ich, »das Klettern?«
    Sie hielt inne, und zuerst dachte ich, dass sie nicht antworten würde.
    »Die Welt verschwindet«, sagte sie dann. »Nach ein paar hundert Metern. Selbst in diesem Land kannst du keine Autos oder Häuser oder irgendwas anderes mehr sehen. Sogar im Yosemite-Nationalpark, der unten nichts weiter ist als eine Touristenfalle. Aber ein paar hundert Meter weiter oben sieht es so aus, wie es vorher gewesen sein muss - vor den McDonalds und Souvenirläden und dem restlichen Mist. Und wenn man erst mal auf dem Gipfel steht, reicht der Blick unendlich weit. Man sieht den Himmel. Er ist größer als die Erde, und man lebt darin. Ich weiß nicht. Man denkt nur noch an das Wetter. Es fließt durch einen hindurch. Ich träume noch immer davon.«
    Ich ebenfalls, aber das sagte ich nicht. Ich weiß nicht, ob sonst jemand verstanden hätte, was sie meinte, aber ich tat es. Das war der springende Punkt. Das war immer der

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