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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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anwenden lässt.«
    Am anderen Ende herrschte Stille, aber ob die Frau nun darum kämpfte, nicht zu explodieren oder nicht aufzulegen, wusste ich nicht.
    »Ich habe mich gefragt«, fuhr ich fort, »ob Ihnen irgendetwas über ihn bekannt ist, das nicht in den Akten steht. Etwas, das er gesagt oder getan hat, wovon ich wissen sollte. Irgendetwas, das mir bei meinem Bericht helfen könnte.«
    »Es steht alles in den Akten. Jedes einzelne schmutzige, kranke, widerwärtige Detail.«
    »Das mag sein, aber die Protokolle spiegeln nicht wider, wie es wirklich war. Ich möchte in meinem Bericht ein möglichst anschauliches Bild wiedergeben.« Ich hielt inne und beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. »Weil ich ansonsten nicht viel habe«, gab ich zu. »Die Schwere der Straftat sollte eigentlich nicht ins Gewicht fallen, aber manchmal tut sie es dennoch. Manchmal ist dieser Faktor letztendlich entscheidend.«
    »Nein«, sagte sie. »Ich werde das nicht noch mal durchmachen. Sie können mich nicht zwingen.«

    »Nein, nein«, beruhigte ich sie. »Ich will Sie zu gar nichts zwingen. Ich versuche nur … Na schön, ich muss wissen, ob Sie in der Lage sein werden auszusagen. Falls das hier weitergeht, wird der Staatsanwalt wollen, dass Sie es tun, und …«
    »Aussagen?« Die Tonlage ihrer Stimme wurde so hoch, als hätte sie Helium inhaliert. »Sind Sie wahnsinnig? Mit ihm in einem Gerichtssaal sitzen? Warum sollte ich das tun?«
    »Um ihn im Gefängnis zu halten«, sagte ich schlicht.
    »Als wäre er je wirklich im Gefängnis gewesen«, antwortete sie verbittert. »Für Sie vielleicht, aber nicht für mich.«
    »Was meinen Sie …«
    »Wollen Sie wissen, wie es ist? Wollen Sie es wirklich wissen? In den letzten paar Minuten, bevor ich einschlafe, ist er da, und wenn ich aufwache, ist er während der ersten paar Minuten ebenfalls da. So ist es all die Jahre gewesen. Es ist nicht anders als an jenem ersten Morgen. Er ist nie von mir weggegangen. Es ist ein Witz, dass er angeblich im Gefängnis sein soll. Für mich war er das nie. Wenn ich sterbe, wird er in den letzten paar Minuten noch immer da sein.«
    Darauf wusste ich nicht das Geringste zu sagen. »Ich wache morgens auf«, sagte sie, »und spüre diese leere Stelle in meiner Brust. Und ich denke, dass ich buchstäblich auseinanderfallen werde, wenn ich aufstehe. Ich muss mir dann immer im Geist vorstellen, wie ich Bandagen um meinen Brustkorb wickle, um ihn zusammenzuhalten, bevor ich aus dem Bett steigen kann. Ich trage dieses Bild den ganzen Tag
mit mir herum - die Bandagen, die mich zusammenhalten.«
    »Ich weiß, dass das …«
    »Sie wissen gar nichts«, schnappte sie. »Meine Therapeutin hat mir geraten, mir einen sicheren Ort vorzustellen. Ein Bild, das ich benutzen kann, um mich zu beruhigen, wenn ich die Fassung verliere. Wissen Sie, was das Einzige ist, das mir einfällt? Ein Boot weit draußen im Meer. Ein kleines Boot in einem riesigen Ozean, so klein, dass nicht mal ein Flugzeug es finden könnte. Und das Wasser auf Hunderte von Kilometern in alle Richtungen ganz ruhig, so dass ich sehen kann, wenn jemand kommt. Und jede Menge leistungsstarke Gewehre, nur für den Fall.«
    Ich atmete tief durch und schloss die Augen, während ich mir überlegte, wie ich hiermit umgehen sollte. Aus diesem Grund hasste ich es, mit Opfern zu tun zu haben. Ein Teil von mir kroch mit ihr in dieses kleine Versteck, in dem sie lebte. Der Schmerz in ihrer Stimme schien in meine Handflächen zu sickern und meine Arme hinaufzuströmen, bis sich auch meine Brust leer anfühlte. Als ich sie mir mit geschlossenen Augen in meinem Geist vorstellte, sah ich nichts als kleine Stücke und Fragmente zerbrochenen Glases.
    »An dem Tag, an dem dieser Mann über mich herfiel«, fuhr sie fort, »hörte das Leben auf, ein Geschenk zu sein, und wurde zur Strafe.«
    Ich öffnete die Augen und wappnete mich für das, was ich sagen musste. Ich war nicht ihre Therapeutin. Ich war nicht ihre Freundin. Alles, was ich für sie tun konnte, war, ihr die Wahrheit zu sagen. »Das ist schrecklich«,
begann ich. »Es ist schrecklich, sich so zu fürchten. Der einzige Trost ist der, dass Ihre derzeitige Angst in Ihrem Kopf ist und Sie sich wenigstens das immer wieder sagen können. Dass er nicht wirklich da ist, sondern abgeschottet in einem Gefängnis, viertausend Kilometer entfernt. Falls er freikommt, wird sich das alles ändern. Jedes Mal, wenn Sie vor Ihrem Fenster ein Eichhörnchen hören, werden Sie denken, dass

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