Wenn du lügst
aus.«
»Du hast ihm nicht gesagt, dass seine Stimme heller und kratziger aussieht, oder?«
»Jetzt komm schon, Betsy.«
»Also, was denkt er, woher du die Info hast? Du hast gesagt, dass darüber nichts in den Akten stand.«
»Nicht ein Wort.«
»Also?«
Ich zögerte. »Keine Ahnung. Er könnte alles denken. Er könnte denken, dass da doch etwas in den Akten ist, wovon er nichts weiß. Er könnte denken, dass die Polizei
mir von einem früheren Verdacht gegen ihn erzählt hat. Er könnte denken, dass ich mit einem Kumpel von ihm gesprochen habe.«
»Werden sie ihn rauslassen?«, fragte Betsy.
»Vermutlich. Er ist ein heißer Anwärter.«
»Breeze«, sagte sie, »ich liebe dich wirklich, aber manchmal bist du dümmer als ein Sack Bohnen.« Sie rauchte weiter und sagte nichts mehr.
Ich dachte über das nach, was Betsy nicht aussprach. Sie hatte nicht ganz unrecht. Kriminelle fürchteten nichts mehr als eine Mordanklage. Sie war das Einzige, das die Tür für immer zuschlagen konnte. Im Normalfall sagten sie: »Zehn Jahre, das pack ich«, oder sogar: »Zwanzig Jahre, das pack ich.« Aber niemand sagte: »Lebenslänglich, das pack ich.« Ganz abgesehen davon, dass Mord im Staat Washington ein Kapitalverbrechen war und er von Glück reden konnte, wenn er lebenslänglich bekam, falls es wirklich ein Opfer im Vorschulalter gab. Er interessierte sich vermutlich sehr dafür, woher ich die Information hatte.
Plötzlich fiel mir wieder ein, wie er über den Tisch auf mich zugeschnellt war. Es waren die Augen gewesen, die mich beunruhigt hatten, viel mehr noch als die seidige Bösartigkeit seiner Stimme. Früher hatte ich mal einen Freund mit einem Pitbull, der mir nie irgendwelche Probleme bereitet und vor dem ich mich nie gefürchtet hatte. Dann, eines Tages, als ich nach unten fasste, um ihn zu streicheln, schnappte er nach meiner Kehle. In dem Sekundenbruchteil, bevor er hochsprang, hatte ich sehen können, wie sich seine Augen veränderten. Sie waren von normalen Hundeaugen zu etwas
geworden, das sonst nur ein Zebra sieht, kurz bevor es gerissen wird. Sobald ich die Augen sah, wusste ich, dass er angreifen würde. Die Attacke erfolgte nur zu schnell, als dass ich mich bewegen oder auch nur sprechen hätte können. Zum Glück hat mein Freund ihn rechtzeitig zurückgepfiffen.
Betsy und ich blieben schweigend sitzen. Sie rauchte weiter, ihre Augen sorgenvoll. Ich hielt den Blick auf Großmutter gerichtet und dachte nach. Ich weiß nicht, was ich von Betsy wollte. Was auch immer es war, ich bekam es nicht. Alles, was ich bekam, war das miese Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Und dann fiel mir ein altes Zitat aus dem Bürgerkrieg ein: »Fehler sind viel schlimmer als Sünden, denn Sünden können bereut und oftmals vergeben werden. Fehler hingegen lachen über die Reue und ernten eifrig die Konsequenzen.«
kapitel 10
»Was wollen Sie?«, fragte die Stimme, und für einen Moment war ich mir nicht sicher, zu wem sie gehörte. Es war spät am zweiten Tag meiner Suche nach Sarah Reasons, und ich hatte die Hoffnung, dass sie sich melden würde, schon fast aufgegeben.
Die Stimme war ein dunkles Moosgrün mit noch etwas anderem darin, das ich nicht genau benennen konnte. Es war irgendwie fleckig, voll von Stellen, wo das Grün ausfaserte. Ich wusste nicht, was es war. Diese Stellen waren nicht wirklich schwarz; sie waren wie ein großes Nichts. Auch konnte ich nicht behaupten, dass ihre Stimme sehr warm geklungen hätte. Das Nachdenken und Sprechen über Collins stand auf ihrer Wunschliste vermutlich ein Stück unter einer Wurzelbehandlung ohne Betäubung.
»Verzeihung, aber wer ist da …«
»Sarah … ähm, Reasons, obwohl ich den Namen nicht mehr benutze. Man hat mir gesagt, dass Sie versucht haben, mich zu erreichen.«
»Ja, das stimmt. Ich arbeite an einem Gutachten über Daryl Collins …«
»Er wird doch nicht entlassen?«
Ich zögerte. »Er hat seine Strafe verbüßt«, sagte ich
vorsichtig. »Man wird ihn entlassen, es sei denn, er wird als Sexualstraftäter mit hohem Rückfallrisiko eingestuft. Wie ich Ihren Freunden schon erklärt habe, ist das der Grund, weshalb ich eine Beurteilung vornehme - um festzustellen, ob er die Kriterien für eine Sicherungsverwahrung erfüllt.«
»Kein geistig gesunder Mensch würde diesen Mann auf freien Fuß setzen.«
»Vermutlich gibt es keine Alternative«, erwiderte ich. »Es ist fraglich, ob sich das einzige Gesetz, durch das er in Haft bleiben würde, auf ihn
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