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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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kann; der Ort, wo sich der Atem verlangsamt und beruhigt; der Ort, wo man aufhört, auf die Uhr zu sehen. Zuhause ist der Ort, an dem zu sein man das Recht hat, an dem man sich weder entschuldigen noch um Erlaubnis bitten muss. Es spielt keine Rolle, ob dieser Ort einem gehört; man gehört zu ihm. Ich überlegte, ob es wohl Menschen gibt, die keine Bindung zu dieser Art von Ort haben, die nirgendwo hingehören. Vielleicht ist das der Grund, warum manche Leute so oft umziehen und nie zurückzublicken scheinen. Aber möglicherweise hat jeder irgendwo einen Platz, an den er gehört, nur findet ihn mancher nicht.
    Die Seebrise spielte mit meinen Haaren, als ich an der letzten Düne vorbeispazierte, die das Landesinnere der Insel vom Meer trennt. Es war ein stetiger Passatwind, dem jener intensive Geruch anhing, den nur das Meer hervorbringt. Wohin auch immer ich gerade auf dem Festland unterwegs war, es war stets nur eine Frage der Zeit, bis ich in der Luft schnupperte und mich fragte, was falsch an ihr war, bis es mir schließlich dämmerte. Die Luft wirkt fernab des Meeres tot; es ist wie der Unterschied, ob man sich in einem geschlossenen Raum aufhält oder im Freien. Selbst Binnengewässern fehlt etwas. Seen sind oft still und träge, durchwuchert von Algen und Sumpfgas, doch das Meer ist immer in Bewegung.

    Ich blieb kurz stehen, um meine Schuhe auszuziehen und meine Zehen in den trockenen, leichten Sand am Rand der Dünen zu bohren. Behutsam bahnte ich mir meinen Weg um die Muschel- und Austernschalen und die Meeresschnecken aller Arten und Größen herum, während ich quer über den Strand zum Meer hinunterlief. Obwohl ich meinen Kopf auf der Suche nach Muschelschalen gesenkt hielt, erkannte ich am lauter werdenden Tosen, dass ich näher zum Wasser kam.
    Als ich schließlich aufsah, peitschte der Wind die Brandung hoch, und die Wellen sahen aus wie Delfine beim Gang auf den Flossen, bevor sie schließlich mit einem Platschen wieder zurücksanken. Manche Menschen behaupten, die Brandung wirke spielerisch. Ich empfinde das nie so. Dies ist der Maschinenraum des Planeten, die Hauptader, das Schlagmal, der Ort, an dem alles begann, und der stetige Wind und die endlosen Wellen sind wie das tiefe, gleichmäßige Schlagen eines Herzens. Alle Straßen der Zeit führen zurück an diesen Ort. Das Meer hat uns ebenso ans Ufer gespült wie die Muschelschalen unter meinen Füßen. Vielleicht war es unvernünftig von uns gewesen, weiterzugehen, und wir hätten stattdessen besser umdrehen und wieder hineinkrabbeln sollen. Ich habe noch nie einen Delfin gesehen, der depressiv wirkte.
    Ich lief den Strand hinunter, während die Zeit stehen blieb und sich in dem Sand auflöste, der unter meinen Zehen knirschte. Der Wind glitt gleich einer Strömung über mein Gesicht. Ich stapfte an runden Dünen vorbei, die Büschel hohen Grases wie Irokesenschnitte trugen, und über Muschelschalen - ein Friedhof kleiner
Tierchen, markiert nur durch ihre winzigen, dahindriftenden Grabsteine. Ich spürte, wie die Akkus tief in meinem Inneren das alles aufsaugten, sich neu aufluden für eine Welt der Einkaufszentren und McDonalds, die sich für mich stets fremdartig angefühlt hatte.
    Befreit von den unaufhörlichen Pflichten des Alltags begannen meine Gedanken zu kreisen wie ein Vogel, der sich auf den Strömungen des Windes dahintreiben lässt. Meine Mutter glitt an mir vorbei, und ich überlegte, ob ihr die Wüste dasselbe bedeutete wie mir das Meer. Auch sie hatte sich nicht gut in der Welt außerhalb zurechtgefunden und sich deshalb nach innen gewandt. Vielleicht fand sie ihr eigenes Meer in den drogendurchtränkten Farben. Oder vielleicht hatten wir alle einen Ozean in uns, einen, in den ich nicht hineinwaten konnte, sie aber schon. Vielleicht hatte sie zuerst diesen Ozean gefunden und nahm die Drogen nur, um dort zu bleiben.
    Meine Gedanken drifteten weiter, und ich dachte an all die verschiedenen Ebenen, auf denen wir existieren. An die 1356 Lebewesen in jedem fingerbreiten Quadratmeter Erde. An die Moleküle und Atome und Quarks, aus denen alles besteht. Dann an die unendliche Größe unseres Sonnensystems und des Universums dahinter. Wir müssen vor- und zurückspringen, um überhaupt über diese verschiedenen Ebenen nachdenken zu können, denn die Gabe des Bewusstseins geht mit einer einzigen, seltsamen Einschränkung einher: Wir können jeweils nur über eine einzige Sache nachdenken. Die Fähigkeit, sich auf all diese Ebenen

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