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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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dreckig.
    Ich überlegte gerade, ob er wohl seine Medikamente genommen hatte oder nicht, als er mir den Kopf zuwandte und sagte: »Aye, das muss der Käpt’n sein da draußen. Hab nie vorher einen wie ihn gekannt. Bin mit ihm den ganzen Weg von der Karibik nach Boston und zurück gesegelt.«
    »Guten Abend, Charlie«, sagte ich.
    Er sah wieder hinaus aufs Meer und fuhr fort: »Ich
komm aus ner anständigen Familie, wissen Sie? War nicht immer ein Seeräuber. Die haben mich von der Mary Jane geschnappt, und das war’s dann. Wenn man erst mal bei den Piraten gelandet ist, hängen dich die Briten auf, wenn sie dich erwischen, und die Piraten erschießen dich, wenn du abhaust. Drum hab ich das Beste draus gemacht.
    War kein schlechtes Leben. Sekt oder Selters. Nicht dass es nicht genug Schiffe zu kapern gegeben hätte. Aber der Käpt’n, der war mal hü, mal hott. Manchmal war er ne ganze Woche lang blau wie ne Haubitze, und die Schiffe fuhren vorbei, ganz wie es ihnen gefiel. Dann hat er sie wieder in die Mache genommen und alles angegriffen, was vorbeikam. Hat mich mal ins Knie geschossen, war aber bloß n Versehen. Wollte nen anderen Mann erschießen, war nur zu blau zum Zielen. Ich hab ihn gefragt, warum er das gemacht hat - wir saßen einfach nur da und haben Karten gespielt -, und da hat er gesagt, dass er hin und wieder jemand erschießen muss, damit die Mannschaft nicht vergisst, wer er ist.«
    Ich hörte Charlie gerne zu. Er hatte Köpfchen, und er wusste mehr über Blackbeard als ich. Die Dinge, von denen er erzählte, waren immer wahr. Ich folgte seinem Blick zum Meer und meinte, Lichtblitze auf dem Wasser zu sehen. Es musste sich um Wetterleuchten handeln. Vielleicht hatte ihn das beunruhigt. Vermutlich hielt er es für das Geschützfeuer von Blackbeards letzter Schlacht. Ich sinnierte, ob es wohl überall auf der Welt Menschen wie ihn gab. Kein Wunder, dass manche Männer in Gettysburg und Shiloh umherwanderten, überzeugt davon, noch immer im Bürgerkrieg zu sein.

    »Ich war nicht an Bord, als sie gesunken ist«, sagte Charlie gerade. »Sie haben mich rauf nach Bath gebracht, um mein Knie angucken zu lassen. War aber rechtzeitig zurück, um es vom Ufer aus mitzukriegen. Hab nix in der Art je zuvor gesehen. Der Käpt’n hat sich’s nicht leicht gemacht, das muss ich schon sagen. Wollte auch nicht unten bleiben.«
    Wir saßen für einen Moment schweigend da. »Tja, Charlie«, sagte ich dann. »Es ist eine schöne Nacht. Falls das Wetter hält, bekommen wir vielleicht ein ganz anständiges Wochenende. Ist bei Ihnen alles okay?«
    Er sah zu mir rüber. »Ich hab nichts gegen die Piratenjäger«, sagte er. »Wären die Dinge anders gelaufen, wär ich vielleicht auf einem von ihren Schiffen gewesen. Aber die Piraten verfolgen die Piratenjäger genau wie die Piratenjäger die Piraten verfolgen.« Er brach ab und starrte wieder aufs Meer. »Passen Sie auf sich auf, kleine Lady«, sagte er einen Moment später. »Da hat es ein ziemlicher Schweinehund auf Sie abgesehen. Sie müssen sich in Acht nehmen. Er hat Sie schon nach Lee gedrängt, und die Piraten haben in diesem Teil des Landes schon immer die Nase vorn gehabt.«
    »Charlie, wovon reden Sie?«
    »Tja, man trifft seine Wahl, nicht wahr. Aber der hier ist eher eine Korallenotter als eine Klapperschlange. Hab solche schon in der Karibik gesehen. Nicht länger als ein Finger, verstecken sich im Sand, schlagen zu ohne Warnung. Mit ner Klapperschlange nehm ich’s jederzeit auf. Die wollen nicht gestört werden und lassen einen wissen, wenn man auf ihrem Territorium ist. Dick wie n Arm, manche von ihnen. Der Käpt’n, der war ne
Klapperschlange, wie sie noch keiner gesehn hat. Aber der nicht, der hinter Ihnen her ist.«
    »Charlie …«
    »Ich kann nicht viel für Sie tun, kleine Lady. Hab meine Wahl schon vor langer Zeit getroffen. Oder sie wurde für mich getroffen. Gibt nix, was ich tun kann für nen Piratenjäger. Falls Sie die Chance kriegen, bringen Sie Ihre Schlange runter zum Wasser. Die Dinge sind hier anders. Man kann nie wissen, aus welcher Richtung der Wind weht oder wer dem Käpt’n zusagt.«
    Ich starrte ihn an, aber mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Er schien keine Antwort zu erwarten. Verwirrt stand ich auf und machte mich langsam auf den Rückweg. Aus irgendeinem Grund zog es mich plötzlich nach Hause.

kapitel 12
    Ich stand entgeistert da, während Lily mich anbrüllte. Ihre Pupillen waren winzige Nadelstiche des Zorns,

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