Wenn du lügst
gleichzeitig zu konzentrieren, ihnen zeitgleich Aufmerksamkeit zu schenken,
sich simultan jeder einzelnen Sache bewusst zu sein - das würde nur Gott beherrschen, falls es einen gibt. Gott wäre ein unermesslich großes Bewusstsein und in der Lage, sich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren. Zumindest für mich wäre das eine eindeutig göttliche Fähigkeit. Wie immer versuchte ich, mir all diese Ebenen gleichzeitig vorzustellen, und wie immer scheiterte ich. Da war also nichts Göttliches an mir.
Ich weiß nicht, ob der Nachmittag vorüberzog oder ob ich es tat. Die Zeit ist schließlich nichts als Bewegung, das ist es doch, was die Physiker uns ständig zu sagen versuchen. Ich konnte da nicht widersprechen. Wann immer ich über die Zeit nachdachte, sah ich lediglich einen großen, ausgebreiteten Quilt und jemand, der sich mit einem Vergrößerungsglas methodisch von einer Seite zur anderen arbeitet. Es war alles da, jedes einzelne Detail, und das Vergrößerungsglas vermittelte bloß die Illusion von Veränderung - diese »hartnäckige Illusion« der Zeit, über die Einstein sich so geärgert hatte.
Ich weiß nur, dass ich den Tag damit verbracht haben muss, um die Insel zu laufen, meist am Strand entlang, obwohl ich auch einigen der Pfade zurück in die Wälder folgte. Mein Kopf brauchte Auszeiten wie diese, Momente, in denen mein verschrobener Geist aus seiner Verankerung befreit wurde und sich nach Belieben forttreiben lassen konnte - Treibgut auf einer Welle diffusen Bewusstseins. Aber die Welt drehte sich unaufhaltsam von der Sonne weg, und bald schon senkte sich die Dämmerung über Portsmouth herab.
Es störte mich nicht. Das Einzige, was besser war als ein Tag am Strand, war ein Abend am Strand. Meine Akkus
luden noch immer auf, und ich war noch nicht bereit, nach Hause zu fahren.
Ich spazierte gerade am Kanal zwischen Blackbeard’s Isle und Portsmouth entlang, als ich am Strand vor mir einen Mann entdeckte. Ein blasser Mond stieg langsam nach oben, während die Insel in die weiche, verhüllende Dunkelheit glitt. Obwohl der Mond beinahe voll war, war der Himmel so bedeckt, dass ich kaum etwas sehen konnte. Ein Gefühl der Unruhe überkam mich. Das letzte Touristenboot hatte Stunden zuvor abgelegt, und es gab weder Fähren noch Brücken nach Portsmouth, deshalb waren er und ich so ziemlich die einzigen Menschen auf der Insel.
In meiner Berufssparte hört man zu viele schlimme Geschichten, um sich darüber zu freuen, nachts an einem abgelegenen Ort einem Fremden zu begegnen. Doch wenn er ein eigenes Boot hatte, war es vermutlich jemand, den ich kannte. Er saß auf einem Stein und starrte hinaus auf den Kanal zwischen Portsmouth und Blackbeard’s Isle. Er beobachtete die Wasserstraße sehr aufmerksam, und selbst als ich näher kam, erkannte ich ihn einen Moment lang nicht.
»Charlie«, sagte ich erleichtert, als ich ihn schließlich erreicht hatte. Charlie hatte »einen leichten Stich«, wie es früher hieß; den Lehrbüchern zufolge war er schizophren. Wie auch immer man es nennen wollte, ich kannte ihn seit Jahren, und er war harmlos. Manchmal nahm er seine Medikamente, manchmal nicht. Ich dachte immer, dass das Leben schöner für ihn war, wenn er es nicht tat. Wenn er sie nahm, schien sein Gesicht zu implodieren, und er wirkte emotional weggetreten, so als
könnte er sich nur noch auf die chemische Lawine in seinem Inneren konzentrieren.
Wenn er die Medikamente nicht nahm, nun, dann war sein Leben gar nicht so schlecht. Dann hielt er sich lediglich für jemand, der er nicht war: Israel Hands, Blackbeards Erster Offizier. Für solch eine Wahnvorstellung schien sie überdurchschnittlich einfallsreich zu sein. Die meisten Schizophrenen entscheiden sich für Christus.
Charlie lebte in einer kleinen Hütte auf Blackbeard’s Isle, und meist hing er an dem vorgelagerten Strand herum. Aber er besaß ein kleines Ruderboot, und ich war ihm schon früher auf Portsmouth Island begegnet.
Charlie kam ganz gut zurecht. Die Menschen brachten ihm mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Lebensmittel vorbei, und - schizophren oder nicht - er war ein verteufelt guter Fischer. Er war zwar nicht gesund genug, um zu arbeiten, trotzdem hatte ich ihn nie hungrig erlebt. Heute Abend jedoch sah ich keine Angelrute.
Er starrte aufs Meer hinaus und schien mich anfangs gar nicht zu bemerken. Er war barfuß und trug eine auf Wadenhöhe abgeschnittene Hose und ein rotes T-Shirt. Die Sachen waren alt, zerrissen und ziemlich
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