Wenn du lügst
Fenster. Lily kam damit nicht zurecht. Sie stand unter Strom, als wäre sie eine Speedsüchtige auf kaltem Entzug.
Ich konnte nicht viel für sie tun. Ich konnte weder ihr Leben wieder in Gang bringen noch ihre sensorische Entgiftung beschleunigen. Die Reizüberflutung, an die sie gewöhnt war, würde langsam aus ihr heraussickern müssen, so wie ein Organismus einen Giftstoff ausscheidet.
Ich bekam ja noch nicht einmal meine eigenen Gefühle auf die Reihe. Es gab Momente wie in dem Geschäft,
in denen ich sie ganz deutlich sah und instinktiv ihren Mangel an Bosheit und ihre Verwirrung spürte. Dann erlebte ich Momente zu Hause, in denen ich ihre Gegenwart als Strafe Gottes für irgendeine mir unbekannte Sünde empfand. Ich musste, zumindest für einen Tag, meine eigene Seele retten, deshalb schickte ich Lily mit der Fähre auf einen Übernachtungsbesuch zu Betsy. Diese hatte ihr eine weitere Tour mit der Harley plus Einkaufsbummel und Fernsehgucken versprochen. Es kümmerte mich nicht, ob sie sich nonstop zusammen Werbung ansehen würden, solange dabei für mich nur dieser eine friedliche Tag heraussprang.
Der Wind frischte auf, als sie auf die Fähre ging, und Wellen klatschten gegen die Seite des Schiffs. Der Geruch von Dieselöl hing schwer in der Luft. Stoisch wirkende Pelikane beobachteten von den Pfählen aus die Geschehnisse. Lily hatte Brot mitgebracht, um die Möwen zu füttern, was mich überraschte. Auf unserer ersten Überfahrt hatte sie sie scheinbar keines Blickes gewürdigt. Ich hatte nicht geahnt, dass sie überhaupt wusste, dass sie dem Schiff folgen würden.
Ich sah zu, wie die Fähre ablegte. Lily hatte während der Fahrt hierher glücklich gewirkt, aber jetzt ging sie zum Heck, umklammerte die Reling mit beiden Händen und starrte mich an. Ihr Gesicht hatte sein Strahlen verloren und zeigte nun eine Starre, wie ich sie nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Sie wirkte älter, aber nicht erwachsener. Mir kam in den Sinn, dass ihr Gesicht in diesem Moment die Essenz ihres Lebens widerspiegelte, die traurige Wahrheit einer gewalttätigen Kindheit ohne den jugendlichen Übermut, vor dem Betsy mich ohnehin
gewarnt hatte, dass er nur eine Maske sei. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie sich fragte, ob ich da sein würde, wenn sie zurückkam. Anscheinend spontan hob sie die Hand in die Luft, als wollte sie mir zuwinken, doch dann hielt sie sie einfach nur oben. Ich hob meine ebenfalls. Irgendwie wusste ich, dass ich sie in diesem Moment hätte fragen können, warum sie mich angerufen hatte, und sie hätte es mir gesagt. Aber das war nicht möglich. Sechs Meter trennten uns inzwischen, und die Entfernung wurde mit jeder Sekunde größer.
Ich beobachtete, wie die Fähre den Silver Lake überquerte und über den Kanal auf Pamlico Sound zuhielt, bevor ich mich zum Gehen wandte. Wer war das überhaupt? Das Mädchen mit dem starren Gesicht, das zum Abschied seine Hand gehoben hatte, schien jemand ganz anderes zu sein als dieses unausstehliche Biest, das in meinem Haus lebte.
Ich kletterte in meinen zerbeulten Jeep und fuhr zur städtischen Slipstelle, um meinen kleinen Bootsanhänger ins Wasser zu setzen. Ich besaß ein kleines Ruderboot mit einem angemessen leistungsfähigen Außenbordmotor. Es war groß genug, dass ich damit hin und wieder fischen gehen konnte, und mehr als groß genug, um mich über den Kanal nach Portsmouth Island und wieder zurück zu bringen. Im Moment zog es mich so sehr nach Portsmouth, dass meine Handflächen juckten. Die Insel war das Äquivalent zu dem Baumhaus meiner Kindheit. Als ich den Meeresarm überquerte, schlugen Wellen gegen den Rumpf, und mir war klar, dass ich zu schnell war, aber es war mir egal. Ich würde die Stöße in Kauf nehmen, nur um möglichst bald anzukommen.
Es gibt tatsächlich magische Orte auf der Welt. Ich bin über ein paar gestolpert, und sie waren unverkennbar. Ich entdeckte einen in Colorado, als ich auf einem Pferd über Wiesen ritt, die sich kaskadenartig und von Fingern des Lichts gestreichelt entlang verwitterter Zäune nach unten ergossen. Ich erkannte welche beim Felsklettern in Wyoming, Stellen, an denen der Stein steil abfällt, sich neigt und krümmt, sich warm und lebendig anfühlt, wenn man ihn berührt. Zweifellos hatte Jena solch einen Ort in Patagonien gefunden. Immer wieder stieß ich hier und da auf Orte, an denen die Dinge mit einer gewissen Anmut angeordnet waren, so als wäre bei ihrem Entwurf ein besserer Architekt am Werk
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