Wenn du lügst
Großstädten
unterschied. Natürlich drängten sich die Menschen hier ebenso wie in jeder anderen Stadt, aber in Dallas war es nicht so augenscheinlich. Da war etwas Ausladendes, etwas Großartiges an dieser Metropole - sie vermittelte trotz all der Wolkenkratzer die Atmosphäre von freiem Raum. Es war, als würde sich die Weite des Landes außerhalb der Stadt quer durch Dallas wälzen und das Gefühl der Übervölkerung abschwächen. Die Stadt hatte lange, breite, leere Flächen in ihrer Seele, die nicht zu verschwinden schienen, ganz gleich, wie viele Hochhäuser gebaut wurden.
Mandy schien keine Lust zum Reden zu haben, was mich an sich nicht weiter störte. Ich hatte kein Problem mit Schweigsamkeit, aber die Stille, die von ihr ausging, verströmte auf Dauer etwas Unbehagliches. Sie wirkte abgelenkt, so als ob sie über etwas nachdächte oder versuchte, zu einem Entschluss zu gelangen.
»Nun«, sagte sie, sobald wir in einem kleinen mexikanischen Restaurant saßen. »Wie ich gehört habe, beschäftigen Sie sich mit einem unserer denkwürdigeren Dreckskerle.«
»Ach«, sagte ich. »Daryl Collins ist Ihnen also ein Begriff? Ich schätze, ich bin bloß überrascht, weil es so lange her ist. Seit wann ist er nicht mehr hier? Zehn oder zwölf Jahre?«
»Ja, aber er hat seinen Bruder Leroy nicht mitgenommen. Der ist ein echtes Brechmittel und eine ständige Erinnerung.«
»Was ist mit diesem Bruder?«
»Leroy ist ein Hurensohn. Er ist tatsächlich weitaus schlimmer, als Daryl es je war. Daryl war ein Kleinkrimineller.
Der typische Ganove. Leroy spielt in einer ganz anderen Liga. Er hat mittlerweile ein wesentlich größeres Drogennetz aufgebaut, als er und Daryl je zusammen hatten, und wesentlich mehr Gewalttaten in seiner Vita. Einmal hat er auf einen Klempner geschossen, weil der nicht angeklopft hatte.«
»Wie bitte?«
»Er bestellte einen Klempner, und als der eintraf, sah er Leroy auf der Veranda und sprach ihn an. Leroy befahl ihm, an der Haustür zu klopfen. Der Klempner hielt das für ziemlich idiotisch, weil Leroy ja direkt vor ihm stand. Als er sich weigerte, hat Leroy seine.357 geholt und auf ihn geschossen.«
»Wow. Wie lange hat er dafür bekommen?«
»Keinen einzigen Tag. Der Klempner hat seine Zeugenaussage zurückgezogen. Sie alle scheinen ihre Meinung zu ändern, wenn es darum geht, auszusagen. Ich schätze, wenn man bereit ist, jemand zu erschießen, weil er nicht anklopft, ist es nicht schwer, die Leute davon zu überzeugen, dass man noch etwas viel Schlimmeres tun wird, wenn sie gegen einen aussagen.«
»Kaum zu glauben, dass ich schon von Daryl beeindruckt war.«
»Nur ein kleiner Fisch«, sagte sie. »Übrigens nennt sich Leroy gar nicht Leroy. Wir tun das bloß, um ihn zu ärgern. Er nennt sich Trash.«
»Trash? Woher kommt das?«
»Ich weiß nicht genau. Mir sind verschiedene Versionen untergekommen. Einer zufolge hat er sich den Namen verdient, weil er so ein großer Müllredner ist, aber mein Partner schwört, dass eine andere Geschichte dahintersteckt.
Er sagt, dass es da mal einen Jungen gab, der ihn Trash genannt hat, als Leroy noch ein Teenager war. Der Junge wurde - so heißt es - von einem Dach gestoßen, und Leroy nennt sich seitdem nur noch Trash. Es sollte wohl so eine Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Nummer sein. Wer weiß, welche Version wahr ist. Bei diesen Typen kann man das nie sagen. Wie auch immer … Was wissen Sie über die Vierjährige, die ermordet wurde?«
»»Nichts«, gestand ich. »Ich bekomme dreitausend oder mehr Seiten an Berichten, die ich durchsehen muss, wenn ich diese Gutachten erstelle. Ich bekomme Polizeiberichte von jedem Verbrechen, das sie begangen haben. Ich bekomme sämtliche Gefängnisunterlagen. Ich bekomme frühere Beurteilungen und psychologische Tests, soweit vorhanden. Ich bekomme die Aussagen der Opfer. Es ist eine Tonne an Material. Irgendwo da drinnen war ein Verweis auf ein kleines Mädchen, das ermordet wurde. Ich kann ihn im Moment noch nicht mal mehr finden. Ich wäre dieser Fährte eigentlich auch gar nicht gefolgt - schließlich wurde er nicht wegen des Mordes an einem kleinen Kind angeklagt -, aber als ich Daryl spontan darauf ansprach, ist er erstarrt. Er ist buchstäblich zur Salzsäule erstarrt, und das hat mein Interesse geweckt.« Zumindest dieser Teil entsprach der Wahrheit.
»Das ist alles?«, fragte sie, und Enttäuschung mischte sich in das Gewitterwolkengrau.
»Tut mir leid. Also gibt es da ein kleines Mädchen?«
»Es
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