Wenn du mich brauchst
stimmte.
Er sah auf einmal blass aus, und als wir uns gerade am Geisterhaus in die Warteschlange einreihten, sackte er plötzlich in sich zusammen.
»Joni!«, schrie meine Mutter, als seine goldene Pappgeburtstagskrone verloren über den Weg kullerte. »Jonathan!«
Anschließend ging alles ganz schnell, wenn es mir auch so vorkam, als wäre alles in einem zähen, dunstigen Nebel gefangen, in dem wir sinnlos herumzappelten und uns zu befreien versuchten: die Leute, die uns anstarrten, Arik, der wie am Spieß schrie und an meinem Arm zerrte, während er immer wieder: »Was hat er denn? Was hat er denn? Was hat er denn?«, schluchzte. »Stirbt er? Stirbt er? Stirbt er?«
Meine Mutter trug Jonathan an den Rand des Weges. Disneyland-Mitarbeiter tauchten auf, meine Mutter telefonierte mit starrer Miene mit meinem Vater.
»Mo, wie waren seine Werte heute Morgen? Wie hoch war seine Dosierung? Hast du dich auch nicht geirrt? Sieh noch mal nach. Ich bin ganz krank vor Angst.«
Ein Notarztwagen kam. Er bahnte sich seinen Weg mit Blaulicht und Sirene.
Immer mehr Leute umkreisten uns und ich hasste sie alle.
Jonathan schlief. Sein Gesicht war weiß wie die Mauer des Geisterhauses und sein Mund stand leicht offen. Ich streichelte seine Stirn. Sie fühlte sich kühl an, aber seine Haut war von kaltem Schweiß bedeckt.
»Er ist nicht tot«, sagte ich zwischendurch zu Arik, der wie eine Klette wimmernd an meinem Arm hing und mich wahnsinnig machte. »Er ist nur – krank. Das weißt du doch, oder?«
»Diese Blutkrankheit?«, schluchzte Arik. »Wegen der er diese vielen Pillen nehmen muss?«
Ich nickte.
»Aber warum ist er jetzt bewusstlos? Wann wacht er auf? Er ist doch sonst nicht bewusstlos.«
Sharoni schaffte es, Arik von mir abzulösen, und ging ein paar Schritte zur Seite mit ihm. Ich war ihr dankbar dafür.
Wir fuhren im Notarztwagen ins Krankenhaus.
Meine Mutter hielt Jonathans kleine Hand fest in ihrer.
Shar hielt Arik fest.
Und ich klammerte mich an Shar.
»Warum wacht er denn nicht auf?«, fragte Arik alle paar Meter.
»Das wird schon wieder«, sagte einer der beiden Sanitäter, die mit uns im Wagen waren. Er war schwarz und dick und hatte eine glänzende Glatze und sanfte, beruhigende Augen. »Kopf hoch. Ist er dein kleiner Bruder?«
»Nein«, sagte Arik empört. »Er ist sogar ein halbes Jahr älter als ich. Er ist nur kleiner, weil er diese Krankheit hat.«
Im Krankenhaus fuhren sie meinen kleinen Bruder, angeschlosen an eine Menge lebenserhaltender Maschinen, eilig davon. Nur meine Mutter durfte mit.
»Wartet hier«, rief sie mir und Sharoni zu. »Dad und David kommen, so schnell sie können. Kümmert euch ein bisschen um Arik, bitte.«
Wir nickten. Und wir warteten. Wir schwiegen. Und wir flüsterten leise.
Wir froren wegen der Klinikklimaanlage und gingen schließlich für einen Moment nach draußen. Dort war es heiß, wir schwitzten und es bildeten sich feuchte Flecken unter unseren Achseln.
»Hatte er so einen Anfall schon mal?«, fragte Sharoni.
»Nein«, sagte ich.
»Verdammt«, murmelte Sharoni.
»Kann er davon – sterben?«, fragte Arik ängstlich.
»Nein«, sagte ich.
»Das ist gut«, sagte Arik und ging zu einer einsamen Schaukel auf einer kleinen Rasenfläche neben den Parkplätzen der Klinik.
Irgendwann kamen mein Vater und David. Und mit ihnen Ariks Mutter, um uns von Arik, der Nervensäge, Arik, dem Besserwisser, und Arik, dem verzweifelten besten Freund meines kleinen Bruders, zu befreien.
»Bis bald! Bis bald! Bis bald!«, rief er aus dem hinteren, heruntergelassenen Fenster des Vans seiner Mutter und winkte wild. »Viele, viele, viele Grüße an Joni, wenn er aufwacht!«
»Warum sagt er immer alles doppelt und dreifach?«, murmelte Shar gereizt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Mein Vater war in der Zwischenzeit ebenfalls auf der Kinderintensivstation verschwunden. Und Shar und ich saßen wieder untätig herum. Nur mit dem Unterschied, dass uns David diesmal Gesellschaft leistete.
Die Zeit verging praktisch gar nicht.
»So ein Mist«, sagte David ein paar Mal zusammenhangslos. Shar und ich nickten.
Irgendwann am Abend fuhren wir mit unserem Vater nach Hause. Jonathan und meine Mutter blieben in der Klinik.
»Seine Nieren haben versagt«, erklärte mein Vater, als wir den Klinikparkplatz verließen. Mehr sagte er nicht. Sein Gesicht war voller Angst. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
Der Himmel war voller Sterne.
9. SKY
Eine niedrige Stirn, zwei
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