Wenn du mich brauchst
Akzent, man stelle sich das vor! – Nein, mein Junge, wir haben keinen Hunger. Im Flugzeug gab es ausreichend.«
Der Abend war gelaufen. Rosie war blass und fahrig und absolut jenseits von dem, was man ihr eigenes Selbst nennen konnte. Moon ging bald in sein Zimmer hinauf, um Musik zu hören. Godot übergab sich, warum auch immer, auf den Wohnzimmerboden. Vielleicht spürte er die Spannungen. Rosie rauchte zwischendurch auf dem düsteren Gästeklo einen Joint. Immer nur ein paar Züge. Sie lief dauernd hin und her. Der Cannabisgeruch drang natürlich nach draußen und Opa Herrmann erschnüffelte ihn gierig wie ein Drogenfahndungshund. Oma Dorothea durchwanderte unterdessen mit wachem Blick unser vollgestopftes Haus, als wäre sie von einer SOKO auf der Suche nach irgendwas Gruseligem. Einer zerstückelten Leiche, oder so.
Und ich? Ich fühlte mich schuldig.
Irgendwann brach Hamburg dann Richtung gemieteter Pension auf und Rosie, Moon und ich versuchten, uns zu regenerieren, aber es klappte nicht wirklich.
»Ich drehe durch.« Rosie war in Tränen ausgebrochen. »Wenn sie da sind, drehe ich einfach durch. Ich spüre es schon. Dieses irre Gefühl in meinem Inneren. Auflösung. Wahnsinn. Was zu viel ist, ist zu viel! Leek betrügt mich, dieses – Baby ist unterwegs, unser Kühlschrank ist leer, ich habe keinen Job, ich bin zu nichts nütze, diese Frau stapft durch mein Haus wie ein Vollstrecker und Herrmann Masirskes böser Blick tötet den kümmerlichen Rest meiner Energiereserven.«
Was sollten wir tun? Moon und ich sahen uns an. Konnte ich zu ihr sagen: Lach doch ein bisschen, Mom? Vielleicht hilft das. Irgendwie kam es mir nicht über die Lippen. Es klang zu grotesk, auch wenn es vielleicht etwas genützt hätte.
Später, als Rosie cannabisumnebelt endlich eingeschlafen war, angezogen und zusammengerollt auf unserem alten Sofa, zugedeckt von Moon, und mein Bruder sich in sein Zimmer verkrochen hatte, um zu surfen, rief ich mit gedämpfter Stimme in Leeks Atelier in Venice an. Aber erst, nachdem ich es vergeblich bei Rosies Freundin Jilliam versucht hatte.
»Dad?«, sagte ich, als es eine Weile vergeblich geklingelt hatte, zu seinem Anrufbeantworter. »Dad, wenn du das abhörst, dann komm bitte vorbei. Hamburg ist überraschend gekommen und Rosie geht es wirklich beschissen. Ich weiß, du magst Oma Doro und Opa Herrmann auch nicht, aber Rosie ist aufgeschmissen ohne dich. Okay?«
Mehr konnte ich nicht tun. Ich ging schlafen.
Es war sehr früh am Morgen. Silbernes Licht drang durch die Korridorfenster der halb herabgelassenen Jalousien der Geburtshilfestation. »Ich bringe das weibliche Neugeborene aus OP 2 in den Kreißsaal K4«, sagte eine der jungen Lernschwestern mit gedämpfter Stimme.
»Ich habe hier noch ein Neugeborenes, ebenfalls ein Sectio-Baby«, sagte eine andere Stimme. »Wir kommen aus OP 3. In welchem Kreißsaal wartet der dazugehörige Vater?«
»K3«, sagte Dr. McCoy, der gerade aus dem OP2 trat. »Aber seid behutsam mit dem armen Mann, er kann kein Blut sehen. Darum hat er auch dort gewartet und ist nicht mit in den OP-Bereich gekommen.«
Leises Lachen war zu hören, freundliches, mitfühlendes Lachen.
Zwei Wärmebettchen wurden behutsam durch zwei Gänge gerollt und trafen sich am Knick, der beide Gänge zusammenführte.
»Hallo?«, rief da eine andere Stimme. »Hallo, Dr. McCoy? Wir kommen von der gynäkologischen Fakultät und sollen …«
»Ah, die Studenten, die ich erwartet habe«, erklärte Dr. McCoy der jungen Lernschwester, winkte den Studenten zu und betrachte eines der schwarzhaarigen Neugeborenen. Beide Babys schliefen fest. »Sie holen die Plazenten der Neugeborenen ab. Die Eltern haben ihre Einwilligung gegeben. Die Medizinstudenten werden eine Lehrstunde zum Thema Nachgeburt …«
Er wurde unterbrochen von einem leisen Würgen. Der wartende Vater aus Kreißsaal 3 war in den Flur getreten, genau in dem Moment, als der Arzt das in durchsichtiges Plastik verpackte Plazentagewebe übergeben wollte.
Der Mann versuchte noch rasch, den Blick abzuwenden, aber er strauchelte trotzdem und der Arzt und die Lernschwester eilten ihm zur Hilfe.
»Es geht schon wieder …«, sagte der Mann verlegen und fuhr sich durch die roten Haare. »Ich war nur einen Moment – puh …«
Er winkte ab. »Alles wieder im grünen Bereich.«
Dr. McCoy lächelte und schob das Wärmebettchen mit dem Säugling in den Kreißsaal 3. Die Lernschwester begleitete das andere Baby in Kreißsaal
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