Wenn du mich brauchst
murmelte Rosie.
»Was sagt der Kerl?«, fragte meine deutsche Großmutter, die anscheinend so gut wie nichts verstand. Die Familie meiner Mutter bestand nicht eben aus Sprachgenies.
Der Mann räusperte sich ein paar Mal. Und entschuldigte sich für seine Nervosität. Und dann gestand er, dass er sich diesen Anruf praktisch erschlichen hätte.
»Ich greife vor«, sagte er. »Im Grunde dürfte ich das nicht. Ich müsste warten. Das Howard-Spencer-Memorial-Hospital wird sich bei Ihnen melden.«
»Was soll das alles?«, fragte Kendra misstrauisch.
»Am Ende doch ein Perverser?«, murmelte Rosie und fuhr sich durch die Haare. Auf ihrem Gesicht waren Spuren von Gartenerde zu erkennen. »Schließlich ist LA voller Irrer und Perverser.«
Meine Mutter sagte das nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch.
»Worum geht es? Was will der Mann? Warum nimmst du nicht ab, Rosie?«
Der Mann gestand, dass er sich Rosies Namen und ihre Adresse kopfüber gemerkt hatte.
»Kopfüber?«, murmelte Rosie.
»Das ist verboten, ich weiß«, fuhr er fort und seine Stimme klang bedrückt. »Aber sehen Sie, ich habe einen schwerkranken Sohn. Keiner weiß, wie lange er noch am Leben bleibt. Da habe ich mir ihre Daten kopfüber aus der Krankenhausakte eingeprägt.«
»Drücken wir ihn weg«, sagte ich, weil mir das Ganze unheimlich wurde.
Moon war in der Zwischenzeit heruntergekommen und Opa Herrmann tauchte jetzt ebenfalls auf.
Der Mann erklärte gerade, dass die Sache, weswegen er anriefe, eigentlich die Klinik in einem persönlichen Gespräch mitteilen müsse, aber er und seine Frau seien derart außer sich, dass sie den Dingen einfach vorweggreifen müssten.
»Bitte, Mrs Lovell, nehmen Sie den Hörer ab! Bitte! – Sehen Sie, unsere Töchter wurden bei ihrer Geburt vertauscht . Ihre und unsere. Wir müssen reden! Wir müssen uns sehen! Wir sind verzweifelt!«
Plötzlich war es totenstill im Zimmer.
14. HANNAH
»Was?« Mein Vater fuhr herum. Er ließ den Telefonhörer sinken und dann unterbrach er die Leitung.
»Hannah! Ich habe dich gar nicht kommen hören …«
Seine Stimme zitterte. Seine Hand zitterte. Er schwankte und sank auf einen unserer antiken Esstischstühle.
»Was hast du da eben am Telefon gesagt, Abba? Wer wurde – vertauscht?«
Er schwieg und irgendwie sah er so aus, als würde er am liebsten nie wieder etwas sagen. Und dann fing er an zu weinen.
»Abba – Dad …«, sagte ich und verstand gar nichts.
»Hannah«, sagte mein Vater leise. Und dann sagte er es wieder und wieder. »Hannah … Hannah … Hannah …«
Sein Gesicht sah fast grau aus.
»Abba, ich?«, flüsterte ich. »Ich wurde vertauscht?«
»Ja«, flüsterte mein Vater zurück und griff nach meiner Hand, aber ich zog sie weg.
Es wurde ganz still. So still wie noch nie zuvor, wenigstens kam es mir so vor. Es lag natürlich auch daran, dass meine Mutter und Jonathan im Krankenhaus waren. Und mein Bruder David war noch in der Jeschiwa .
Sonst spielte meine Ma um diese Zeit oft auf unserem Klavier. Oder sie sang. Meine Mutter liebt Chopin und Bach.
Meine Mutter? Mein Bruder? In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Ich erinnerte mich schemenhaft an einen Bericht, den Sharoni und ich einmal im Fernsehen gesehen hatten. Er hatte von zwei Frauen gehandelt, die schon über fünfzig waren, als man herausfand, dass man sie als Babys vertauscht hatte. Die beiden Frauen lebten weit voneinander entfernt, eine an der Ostküste und eine an der Westküste, eine war dick, die andere dünn, und Sharoni und ich hatten einen ganzen Abend über diese Story diskutiert.
»Stell dir vor, wir beide wären vertauscht worden«, hatte Shar gesagt. »Deine Eltern wären eigentlich meine Eltern und meine Eltern wären deine.«
Wir hatten ziemlich viel Spaß gehabt bei der Vorstellung. »Dann wäre David mein Bruder«, sagte Shar, warf sich auf mein Bett, stützte ihr Kinn in ihre Hände und überdachte diese Möglichkeit.
»Und dein Bruder Desmond, Mr Schweißfuß, wäre meiner. Puh!«, sagte ich und ließ mich neben sie fallen. Wir lachten, denn im Grunde mochte ich Desmond, das wusste Shar natürlich.
Wir hatten eine Weile abgewogen, wer es besser gehabt hätte, und waren dann zu dem Schluss gekommen, dass es letztendlich gar nicht so schlimm gewesen wäre, wenn ich sie und sie ich gewesen wären.
»Aber stell dir vor, sie hätten dich als Baby zum Beispiel mit Amanda Whitman vertauscht«, sagte Shar zum Schluss nachdenklich. Amanda Whitman hatte, als Sharoni neu
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