Wenn du mich brauchst
Mein Name, mein Geburtsdatum und mein Geburtsgewicht standen darauf.
»Sie sagen, sie wissen nicht, wie es genau passieren konnte«, berichtete mein Vater bedrückt. »Keiner kann es sich erklären. Normalerweise werden diese Armbändchen unmittelbar nach der Geburt angebracht, aber es kommt immer mal wieder vor, dass das farblich passende Bändchen nicht in den Kreißsaal-OPs vorrätig ist, und dann werden die Bändchen etwas später befestigt. Ebendann, wenn die Schwestern die Neugeborenen zurück in den regulären Kreißsaal gebracht haben, wo die Väter warten. Das ist nicht ganz korrekt, aber so Usus. Die Krankenhausleitung war sehr kleinlaut deswegen.«
»Aber du warst doch da! Wie war das bei – Hannah?«, drängte David und sah unseren Vater an.
Ich sah, wie er in einer ratlosen Geste die Schultern hob. »Ich … ich kann mich leider nicht – hundertprozentig erinnern«, sagte er stockend und schaute entschuldigend zu meiner Mutter hinüber. Aber meine Mutter blickte aus dem Fenster in den nahen Dämmerlichthimmel.
»Ist das alles überhaupt so wichtig?«, fragte Esther plötzlich. »Ich meine, sie ist, wer sie ist. Sie ist Hannah, oder nicht? Und damit Schluss. Was soll dieses Palavern? Was soll die Aufregung?« Sie lächelte mir zu, aber ich konnte nicht zurücklächeln.
Wenn es stimmte …
Wenn es wirklich stimmte – wer war ich dann?
Und wo war die wahre Hannah? Wer war sie?
»Wie geht es denn jetzt weiter?«, fragte ich leise und spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper.
»Gar nichts geht weiter«, rief David ärgerlich. »Das ist doch alles Blödsinn. Wir sollten es einfach vergessen. Und Punkt.«
»Es ist nur – wegen Jonathan«, sagte meine Mutter da. »Nur seinetwegen. Dieses – Mädchen, sie könnte vielleicht Knochenmark für ihn spenden. Man könnte es überprüfen …«
Dieses Mädchen. Sie. Jonathans wahre Schwester. Die echte Hannah. Die echte Hannah Greenberg. Wenn es nun doch alles stimmte?
Plötzlich musste ich weinen, weinen, weinen.
»Nicht doch, Han!«, murmelte David, stand auf, kam zu mir und legte seinen Arm um mich. Seine dunklen Haare streiften mein Gesicht, das sich kalt und taub anfühlte.
»Es ist nicht nur deshalb«, sagte mein Vater in diesem Moment. »Die Klinik sagt – man kann nicht so tun, als hätte es diese Entdeckung nicht gegeben. Die andere Familie hat auch … ein Recht, die Wahrheit zu erfahren …«
Die andere Familie . Meine andere Familie? Meine wirkliche Familie?
»Und deshalb habe ich dort angerufen«, fuhr mein Vater hilflos fort. »Die Nerven sind mit mir durchgegangen. Ich musste etwas tun. Ich musste anrufen …«
»Aber sie rufen nicht zurück!«, sagte David heftig. »So ist es doch, oder? Sie haben nicht zurückgerufen! Sie sind nicht interessiert!«
Esther war nach draußen in den Garten gegangen, still und leise und für sich, so wie sie war. Schemenhaft konnte man sie dort draußen herumlaufen sehen. Schließlich verschwand sie im hinteren Teil, dort wo David und ich als kleine Kinder gespielt hatten. Und wo jetzt Jonathan immer mit Arik spielte. Gespielt hatte, bevor er zu krank geworden war.
Dorthinten hing in unserem alten Johannisbrotbaum unsere Schaukel, gute, alte Freundin unserer Kindertage.
Ich will schaukeln, David! Ich!
Ich bin zuerst dran, Han! Ich bin dein älterer Bruder! Ich bestimme!
»Das ist doch alles unmöglich! Unmöglich …« Meine Mutter weinte wieder.
»Ich weiß nicht … ob sie mich richtig verstanden hat«, sagte mein Vater leise und rang die Hände. »Ich hätte das nicht tun sollen. Ich hätte es der Klinik überlassen sollen! Ich habe mich – wie ein Trottel benommen.«
»Können wir das nicht endlich lassen?«, schluchzte ich. Meine Mutter hatte David abgelöst und umarmte mich. David saß im Schneidersitz vor mir am Boden. Er hatte den Kopf gesenkt. Seine Kippa h war verrutscht, aber anders als sonst schien er es noch nicht mal zu merken.
»Was sind das für Leute?«, sagte er dann aber plötzlich und hob den Kopf. »Wo leben sie? In LA, wie wir? Was weißt du über sie?«
Es war nicht zu stoppen. Es war wie eine eisige Welle, die nicht aufzuhalten war. Sie wogte über mich hinweg, einfach so.
Ich wollte nichts mehr hören. Aber ich lauschte angstvoll.
Mein Vater wollte nichts mehr sagen. Aber die Worte kamen einfach aus seinem Mund.
»Sie … sie ist, zumindest nehme ich das an, Deutsche«, sagte er.
»Sie … sie sprach mit einem deutschen Akzent am Telefon«, sagte er.
»Sie war
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