Wenn du mich brauchst
an der Zeit, meine Teuerste. Nimm dir ein Herz und sprich darüber. In Gedanken bin ich – wie immer – bei dir!
Na klar. Selbst Holocaust-Heinrich wusste es schon: Hannah ist nicht Hannah. Die Familie Greenberg hat ein fremdes Kind aufgezogen. Ein Kuckucksei. Einen Eindringling, einen Schmarotzer.
Aber was sollte das mit dieser sagenumwobenen Annegret? Was sollte uns Esther von ihr erzählen? Und was hatte es mit mir zu tun?
In diesem Moment wachte sie auf.
»Hannah …?«, sagte sie leise und richtete sich auf. Dann glitt ihr Blick über den Computermonitor.
»Du bist eingeschlafen. Er ist offline«, brachte ich sie auf den Stand der Dinge.
Esther nickte gedankenverloren und schaltete den Computer aus.
»Was sollst du uns von dieser Annegret erzählen?«, überrumpelte ich sie und aus irgendeinem Grund hatte ich Herzklopfen.
Esther schwieg und stand schwerfällig auf.
»War sie eine alte Freundin von dir?«, hakte ich nach. »Gibt es sie wirklich?«
Diesmal seufzte Esther, aber auf eine Antwort wartete ich weiter vergeblich.
»Bubbe, sag doch«, bat ich. »War sie vielleicht mit dir in – Auschwitz? Warum erzählst du es dem Holocaust-Heinrich, aber uns nicht?«
»Nenn mich nicht Bubbe, Channaleh«, murmelte Esther schließlich fahrig und etwas unwillig. »Deine Großeltern in Ramat Aviv sind Bubbe und Sejde. Sie mögen solche Worte. Solche Bezeichnungen. – Ich bin einfach Esther. Für euch alle. – Und jetzt stör mich nicht länger, mein Täubchen, ich habe zu tun.«
»Was musst du tun?«, fragte ich und erinnerte mich daran, dass sie mich früher oft so genannt hatte, Täubchen . Schön klang das. Schön und vertraut und beruhigend. Wie aus einem anderen Leben.
»Ich muss nachdenken«, sagte Esther leise. »Nachdenken, was das Beste für alle ist.«
17. SKY
Leek blinzelte in die grelle Morgensonne, während er mit fünf Einkaufstüten im Arm vom Wagen zur Haustür wankte. Godot raste ihm entgegen und bellte in bester Wachhundmanier.
»Mistvieh, ich bringe dir Futter«, sagte mein Dad ärgerlich.
»Da bist du also«, begrüßte ihn meine Großmutter mit einem maliziösen Lächeln auf den Lippen. Hamburg war früh auf an diesem Morgen und der Grund waren unerwartete Flöhe im teuren Pensionsbett.
»Leek!«, rief Rosie erleichtert, kam mit einem ungeöffneten Brief in der Hand ins Freie und drängte sich an ihrer Mutter vorbei.
»Morgen, meine Schöne«, sagte Leek und küsste meine Mutter auf den Mund. »Bin letzte Nacht aus Phoenix zurückgekommen. Erfolg auf ganzer Linie. Werde dort im Dezember eine Ausstellung haben. Habe dir Soul-Food vom Feinsten mitgebracht, Darling. Alles, was du liebst: Banana Nut Bread, Coconut Cream Pie, Honey Chicken und Mascarpone Brownies. Und dazu das Übliche. Und neue Futtervorräte für diesen degenerierten Wachhund.«
Er lachte leise und in Moon-Art.
Gershon war in der Nacht noch nach Hause gefahren, ungeküsst von mir, genau wie ich es vermutet hatte, aber mit dem Versprechen, heute im Laufe des Tages noch einmal vorbeizukommen.
»Schön war’s«, hatte er zum Abschied gesagt. »Danke, Sky, dass du mich mitgenommen hast.«
Wir lächelten uns an.
»Sorry wegen dieser Idioten an meiner Schule«, sagte ich zum Schluss.
Gershon winkte ab.
»Lass mal, Antisemiten gibt es überall. – Deine Mutter ist übrigens prima. Nett. Lustig. Und hübsch.«
Dazu sagte ich nichts. Ich kannte das schon zu Genüge. Fast alle, die mal zu mir gekommen waren, fanden Rosie auf den ersten Blick prima. Der Unterschied war nur, dass sie nicht mit ihr leben mussten.
Kendra schlief noch oben in meinem Zimmer. Sie schläft immer mit batikbunten Ohrstöpseln, angeblich eine Angewohnheit, um der Stimme ihrer Mutter morgens so lange wie möglich zu entkommen. Manchmal frühstückt sie zu Hause sogar auf diese Weise und einmal, als ihre Mutter deswegen die Nerven verlor und über Kendra herfiel, um ihr die Stöpsel aus den Ohren zu zerren, gab es einen Unfall, weil Kendras Mutter derartig scharfe Fingernägel besitzt, dass sie ihre Tochter verletzte. Kendra zeigt noch heute allen gerne die daraus resultierende Narbe an ihrer Ohrmuschel.
Moon ließ sich erwartungsgemäß nicht blicken, als Leek auftauchte, und darum trug ich zusammen mit meinem Dad die Einkäufe ins Haus. Natürlich hatte er nicht nur Seelendelikatessen gekauft, sondern auch ganz normale Sachen, um unsere Speisekammer und den Kühlschrank wieder zu füllen.
Meine Mutter kam uns hinterher und riss dabei ein
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