Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Jahre«.
» Allerwenigstens«, wiederholte ich.
» Und du kannst dich wirklich an nichts erinnern?« Er klang wieder skeptisch.
» Nö. Na ja, an nichts außer meinem Namen.«
» Nicht daran, wo du aufgewachsen bist? Nicht daran, wer deine Eltern waren?«
» Nein.«
Bei der Antwort versagte mir fast die Stimme. Bisher hatte ich nicht daran gedacht, dass ich wahrscheinlich eine Familie gehabt hatte, früher einmal. Eine Familie, die ich geliebt hatte, oder eine, an die ich mich noch nicht einmal erinnern wollte? Vielleicht blieben die Einzelheiten meines häuslichen Lebens, wie die Informationen auf meinem Grabstein, besser ein Geheimnis?
Zum Glück schien Joshua an meiner Reaktion nichts Ungewöhnliches aufzufallen, denn seine Fragen versiegten nicht. Und bald schon zogen sie mich mit überraschender Leichtigkeit aus meinen düsteren Gedanken.
So machten wir eine Zeit lang weiter, er als Fragender und ich als Befragte. Manche seiner Fragen waren ernst und traurig (erinnerte ich mich an das Zuhause meiner Kindheit?), und manche waren angenehm albern (hatte ich je einen Leguan als Haustier gehabt? – denn seine Schwester hatte einen gehabt, etwa zwei Wochen lang, bevor ihre Eltern sie dazu zwangen, sich seiner zu entledigen). Meine Antwort auf jede Frage fiel unweigerlich negativ aus, größtenteils weil ich mich nicht an das Erfragte erinnern konnte.
Doch seltsamerweise wurde ich mit jeder Frage weniger deprimiert angesichts meines mangelnden Erinnerungsvermögens. Allmählich bekam ich das Gefühl, das Wort » Nein« nicht zu sagen, weil ich das traurige Leben der wachen Toten gelebt hatte, sondern als Teil eines verbalen Spiels, das ich mit ihm spielte. Als dürfte ich ihn nur mit einem » Ja« belohnen, wenn er die richtige Frage stellte.
Mit jeder Frage wurde mein Lächeln breiter. Schon bald spiegelte Joshuas Miene die meine wider, als sei meine Begeisterung für dieses Spiel ansteckend.
» Erinnerst du dich, welche Sorte Eis du am liebsten gemocht hast?«
» Nein«, lachte ich. » Ich erinnere mich noch nicht einmal daran, ob ich überhaupt Eis mochte.«
Er bereitete sich auf die nächste Frage vor, indem er die Stirn runzelte und um der dramatischen Wirkung willen das Kinn auf eine Faust stützte. » Erinnerst du dich an euer Schulmaskottchen?«
» Nö. Ich kann mich überhaupt nicht an die Schule erinnern. Tot zu sein hat also doch seine Vorteile, stimmt’s?«
Erst lachte er glucksend, dann fuhr er ruckartig in die Höhe, als habe ihn etwas gezwickt. Mit einem leisen Fluchen sah er auf die Uhr. Er sprang von der Bank und lief auf den Parkplatz zu. Hätte mich sein unvermitteltes Verhalten nicht verwirrt, hätte ich vielleicht gelacht, als er schlingernd anhielt und zu mir herumwirbelte, wobei er eine dramatische rote Staubwolke aufwirbelte.
» Komm schon!«, schrie er, wandte sich um und rannte zum Wagen seines Vaters zurück. Ohne nachzudenken, befolgte ich den Befehl und lief ihm hinterher.
Als er ungeschickt die Tür auf der Fahrerseite aufsperrte, räusperte ich mich.
» Ähm, Joshua? Was ist denn los?«
» Wir kommen zu spät.«
» Wozu denn?«
Er achtete nicht auf meine Frage. » Die Mittagspause ist in etwa zehn Minuten zu Ende.«
» Und?« Allmählich fand ich die Geheimniskrämerei ein wenig frustrierend.
» Und wir werden etwa siebenundvierzig Verkehrsregeln brechen müssen, um rechtzeitig hinzukommen.«
» Wohin denn?« Ich hob völlig ratlos die Hände.
» Zum Unterricht.«
Das Wort klang gedämpft, weil er sich bückte und auf den Fahrersitz setzte. Sekunden später lehnte er sich herüber und stieß die Beifahrertür vor mir auf.
» Komm schon«, wiederholte er.
» In die … Schule? Mit dir?«
» Natürlich.«
Bei dem Gedanken wäre ich vor Schreck beinahe umgefallen. Am liebsten hätte ich ihm erklärt, wie unvernünftig es wäre, wenn wir uns irgendwo zusammen in die Öffentlichkeit begaben. Doch sein eindringlicher Gesichtsausdruck verriet, dass er keinen Widerspruch dulden würde. Also drehte ich rasch den Kopf – sah ihn an, dann den mir vertrauten sicheren Wald, dann wieder ihn.
» Keine Zeit nachzudenken, Amelia. Steig einfach ein.«
» Aber«, protestierte ich matt, » ich erinnere mich noch nicht einmal daran, wie man in einem Auto fährt!«
Grinsend klopfte er auf den Sitz.
» Es ist wie mit dem Fahrradfahren, versprochen.«
» Daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern«, murrte ich, ließ mich aber auf den Beifahrersitz gleiten und duldete,
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