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Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Titel: Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hudson
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stehengeblieben war. Ruckartig wandte ich den Kopf wieder der Frau zu, spannte alle meine Muskeln an. War sie ein weiterer ehemals toter Mensch, der mich jetzt sehen konnte, ebenso wie Joshua? Oder noch ein boshafter Geist, wie Eli?
    Erst ein zweiter Blick in ihre Augen verriet mir, was ich wissen musste. Die Augen waren nicht wirklich auf meine gerichtet, sondern blickten stattdessen an mir vorbei zu Joshua. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, da ihre Sicht wahrscheinlich dank meiner Gestalt verschwommen war, doch nicht so sehr, dass ich für sie sichtbar wurde. Die Frau sah durch mich hindurch, wie man durch eine Rauchwolke hindurchsieht: davon abgelenkt, ohne sich ihrer wirklich bewusst zu sein oder sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Als sie sprach, bestätigte sie meine Vermutung.
    » Mr. Mayhew, haben Sie seit Ihrem Scharmützel mit dem Tod die Erlaubnis, hier hereinzuspazieren, wann immer es Ihnen passt?«
    » Nein, Mrs. Wolters. Ich dachte, ich sei pünktlich beim Läuten der Glocke dagewesen?«
    Sie machte ein finsteres Gesicht, mit tiefen Falten um den missmutig verzogenen Mund.
    » Das Läuten der Glocke signalisiert den Beginn des Unterrichts, nicht den vorgesehenen Zeitpunkt Ihres Erscheinens. Setzen Sie sich jetzt.«
    » Ja, Ma’am«, murmelte er. Mit gesenktem Kopf ging Joshua rasch den Gang entlang und ließ sich hinter ein leeres Pult gleiten – seines, wie ich annahm.
    Ein stämmiger rothaariger Junge, der am Pult neben Joshuas saß, klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte: » Hättest die sechste Stunde auch schwänzen sollen, Kumpel.« Joshua nickte nur angespannt.
    Ohne mich noch einmal anzusehen – beziehungsweise durch mich hindurchzusehen –, bewegte sich Mrs. Wolters in einem Bogen zu ihrem eigenen Pult. Ich sah Joshua in die Augen und fuhr mir mit einer Hand über die Stirn, wobei ich mit den Lippen das Wort Puh formte. Er schenkte mir den Anflug eines erleichterten Lächelns und machte sich dann daran, Bücher aus seiner Tasche zu ziehen.
    In dem Augenblick kam mir in den Sinn, dass ich vor einem Raum voller lebender Menschen stand. Auf einmal fiel mir wieder der typische Albtraum eines Heranwachsenden ein: nackt vor einem Klassenzimmer voller Gleichaltriger zu stehen. Ich war gewiss nicht nackt, und diese lebendigen Geschöpfe waren nicht wirklich meine Altersgenossen, aber ich kam mir trotzdem schrecklich exponiert vor. Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass die Schüler mich alle direkt anstarrten, obwohl die meisten einfach nur gelangweilt dreinblickten, während sie ihrer Lehrerin dabei zusahen, wie sie etwas an die Tafel hinter mir schrieb.
    Erst da wurde mir bewusst, dass ich seit meinem Tod nicht mehr mit so vielen Angehörigen der Welt der Lebenden auf so engem Raum zusammen gewesen war. So viele atmende Menschen mit klopfendem Herzen machten mich nervös. Sie erweckten in mir den Wunsch, mich schützend in mich selbst zurückzuziehen.
    Ich blickte erneut zu Joshua. Auch er starrte mit verwunderter Miene im Klassenzimmer umher. Nachdem er jeden Klassenkameraden gemustert hatte, richtete er den Blick wieder auf mich. Wow, formte er lautlos mit den Lippen. Verwirrt zog ich die Brauen zusammen. Er machte eine kaum merkliche Kreisbewegung mit dem Kopf, die das gesamte Klassenzimmer beschrieb, und nickte dann nachdrücklich in meine Richtung.
    Ich begriff. Er kam gerade zu dem Schluss, dass er tatsächlich der einzige Mensch war, der mich sehen konnte. Im Park hatte er mir zugehört und mir Glauben geschenkt … theoretisch. Hier war die Theorie auf die Probe gestellt worden. Eine Probe, die bewies, dass ich unsichtbar war – ein Geist.
    Ich nickte bestätigend. Um seine jähe Erkenntnis noch zu unterstreichen, sagte ich laut: » Abgefahren, was?«
    Niemand außer Joshua blickte zu mir auf. Wow, formte er wieder lautlos mit den Lippen und grinste.
    Dieses Grinsen sprach Bände und sagte mir genau, was Joshua von der Daseinsform seiner neuen Freundin hielt. Das Grinsen löste den warmen leichten Schmerz in meiner Brust aus, eine willkommene Empfindung angesichts meiner Unsicherheit. Das Grinsen beruhigte mich voll und ganz.
    Mutiger lächelte ich zurück und verbeugte mich vor meinem gelangweilten, unwissenden Publikum. Dann klatschte ich laut, als wollte ich mich für die huldvolle Aufmerksamkeit bedanken, die man meiner Vorstellung gezollt hatte. Noch immer blickte niemand mich an.
    Ein Erinnerungsfetzen kam mir in den Sinn: meine eigene Stimme, die kurz nach meinem Tod

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