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Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Titel: Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hudson
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Fremde anschrie, die mich nicht sahen. Die Erinnerung an jene Qualen, die mir in diesem Moment so weit weg schienen, machte mich unerklärlich leichtsinnig. Ich ging vor der Klasse auf und ab, die Arme wie ein General hinter meinem Rücken verschränkt.
    » Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich Sie heute alle hierher bestellt habe«, intonierte ich mit meiner tiefsten Vorstandsstimme.
    Joshua stieß ein Schnauben aus und schüttelte den Kopf. » Verrückt«, sagte er laut.
    » Was war das, Mr. Mayhew?«
    Mrs. Wolters’ schrille Stimme erscholl durch den Raum, während die Lehrerin sich von der Tafel umdrehte. Joshua versuchte verzweifelt, seinen Fehler zu überspielen, indem er einen Hustenanfall vortäuschte.
    Leider gingen ein paar von Joshuas Klassenkameraden, einschließlich des großen rothaarigen Jungen neben ihm, fälschlich davon aus, dass er ihre Lehrerin absichtlich verspottete. Sie brachen in Gelächter aus und schlossen sich dem vermeintlichen Jux an. Mrs. Wolters, die sich für die Zielscheibe eines ungehörten Witzes hielt, stand so kerzengerade da wie das Stück Kreide, das sie jetzt umklammert hielt. Ihr feindseliges Starren war geradezu mordlustig.
    » Mr. Mayhew, da Sie sich bei dem Stoff so ausgezeichnet auszukennen scheinen, kommen Sie doch bitte an die Tafel und sagen Sie uns, von welcher Ordnung diese Differenzialgleichung ist.« Sie spuckte die Worte quasi aus.
    Joshua warf mir einen panischen Blick zu. Sein Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass Differenzialgleichungen nicht gerade sein Spezialgebiet waren.
    » O Gott«, stöhnte ich. » Es tut mir ja so leid. Ich bin ein Trottel.«
    Er schüttelte leicht den Kopf und versuchte mir mit einem Nein zu antworten, obgleich ich ihm offensichtlich Schwierigkeiten bereitet hatte. Er schlüpfte von seinem Platz und ging schwerfällig auf die Tafel zu. Mrs. Wolters sah er kaum an, als er die Kreide aus ihrer mageren Hand nahm.
    Ich eilte an seine Seite und wedelte nutzlos mit den Händen. Als ich zu der komplizierten Rechenaufgabe vor ihm hochstarrte, bot sich mir lediglich ein verworrenes Durcheinander aus Zahlen und Buchstaben und Symbolen. Oh nein, dachte ich, während es mich Mühe kostete, die Gleichung nicht vor meinen Augen verschwimmen zu lassen. Beim bloßen Anblick der ganzen d und Dreien und x und y beschleunigte sich meine Atmung genauso wie Joshuas.
    Er starrte die Gleichung an der Tafel ebenfalls an, das Gesicht völlig ausdruckslos. Er war clever … aber vielleicht nicht derart clever. Nicht ohne Vorwarnung. Nicht angesichts dieser ungeheuren Aufgabe.
    » Mist«, sagte ich laut. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mrs. Wolters Joshua lauernd angrinste. Seine Hand hatte die Kreide direkt unter der Gleichung an die Tafel gedrückt und hielt sie jetzt dort, unbeweglich. Das selbstgefällige Gesicht der Lehrerin brachte mich in Rage. Ich wandte mich wieder der Aufgabe zu und starrte sie eindringlich an, fest entschlossen, etwas, irgendetwas, zu tun.
    Aber es geschah nichts … nichts … nichts.
    Und dann …
    » Drei!«, rief ich. » Joshua, die höchste abgeleitete Funktion ist d 3 /dy 3 – die dritte. Also ist die Ordnung drei.«
    Mit hochgezogener Braue warf er mir einen Seitenblick zu und schrieb dann kratzend die Zahl 3 an die Tafel. Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht, als er sich zu Mrs. Wolters umdrehte, doch er sprach mit bescheidener Stimme.
    » Ich glaube, dritte Ordnung, Ma’am.«
    Mrs. Wolters stand der Mund wie einer Forelle offen. Als Joshua die Hand ausstreckte, um ihr das Kreidestück zu überreichen, griff sie blind danach und ließ es in die Tasche gleiten.
    » Tja … ähm …«
    Während sie vor der Klasse vor sich hin stotterte, kehrte Joshua an seinen Platz zurück, wobei er absichtlich stolzierte. Ich ging neben ihm, dicht an ihn gedrängt aufgrund des schmalen Ganges. Wir gingen an einem rotblonden Jungen vorbei, der am Pult vor Joshuas saß, und der Junge streckte eine Faust in die Luft. Joshua hob die linke Faust und ließ sie mit der des Jungen zusammenstoßen.
    Er nutzte die Ablenkung dieses Augenblicks, streckte die rechte Hand kaum merklich aus und strich mit seinen Fingern über die meinen. Die Flamme in meiner Hand reichte als Dankeschön.

9
    Nach Schulschluss fuhr Joshua uns zurück zum Robbers Cave Park und führte mich zu unserer Bank. Sobald wir saßen, lehnte Joshua sich an die Kante des Betontisches zurück, die Ellbogen auf der

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