Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Tischplatte abgestützt. Ich saß schweigend neben ihm, ein Bein unter mir angewinkelt, das andere aufgerichtet und mit dem Arm an die Brust gedrückt. Eine Zeit lang sagten wir nichts, wahrscheinlich weil ich meine Aufmerksamkeit auf alles, nur nicht auf ihn richtete. Vor allem versuchte ich, das ungläubige Lächeln zu ignorieren, das er mir gelegentlich zuwarf.
Ich hatte das Gefühl, dass ich seine Gedanken erraten konnte, und als er endlich etwas sagte, stellte sich zu meiner größten Verlegenheit heraus, dass ich recht hatte.
» Also, Amelia – erinnerst du dich daran, wann genau du zu einem Mathegenie geworden bist?«
Ich heftete den Blick auf den Waldrand und tat mein Bestes, um beiläufig mit den Schultern zu zucken » Ich war kein … ich bin kein Genie. Ich habe wahrscheinlich bloß gelernt. Wie du es jetzt gerade tun solltest.«
Joshua lachte. » Ich lerne ja durchaus. Ich bin eigentlich ein Einserschüler … jedenfalls, wenn Mrs. Wolters mich nicht gerade aufs Korn nimmt. Und was soll eigentlich die falsche Bescheidenheit?«
Ich knurrte leise und wandte mich ihm zu, um ihn wütend anzustarren. Er lächelte gespielt unschuldig. Möglicherweise freute er sich, mich auf die Palme gebracht zu haben, denn nun sah ich ihn endlich an.
» Pah.« Ich drehte den Kopf wieder ruckartig in Richtung Wald, schnell genug, dass mir die Haare ums Gesicht flogen. Ein paar Augenblicke saßen wir weiter so gut wie still da, abgesehen von Joshuas leisem Lachen. Schließlich täuschte er einen übertriebenen Hustenanfall vor, so als müsse er sein Gelächter verbergen.
Das Lachen brachte das Fass zum Überlaufen. Ich warf zum Protest die Hände in die Höhe.
» Das hier ist keine falsche Bescheidenheit meinerseits, okay?«, rief ich. » Ich habe keine Ahnung, ob ich ein Genie bin. Offensichtlich kenne ich mich mit Differenzialgleichungen aus. Aber ich habe keine Ahnung, wie oder warum. Wie dem auch sei, vielleicht habe ich dafür einen schrecklichen Wortschatz … oder keine Ahnung von Erdkunde … oder so was.« Meine Stimme erstarb, da mir am Ende meiner kleinen Verteidigungsrede die Luft ausging.
Joshua lachte lauthals los. » Du bist niedlich, wenn du sauer bist, weißt du das?«
» Uuäh«, stöhnte ich und rümpfte angewidert die Nase. Na ja, wenigstens ein bisschen angewidert. » Das ist gönnerhaft, Joshua.«
Es folgte mehr Gelächter, und dann sagte er: » Siehst du? Guter Wortschatz. Gönnerhaft hat drei Silben.«
Gegen meinen Willen lachte ich ebenfalls laut los.
Schon bald verzieh ich ihm seine Neckerei. Den restlichen Nachmittag stellte ich jedoch sicher, dass sich beinahe die ganze Unterhaltung um ihn drehte, und lenkte von seinen Fragen ab, um so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen.
Ich erfuhr, dass er gerade erst im August achtzehn geworden war (derzeit hatten wir Ende September, einen Montag – ich konnte dieses neue Zeitbewusstsein kaum fassen, weil es bis vor Kurzem einfach nicht vorhanden gewesen war) und dass Joshua bei seinen Eltern wohnte, zusammen mit seiner Großmutter und seiner sechzehnjährigen Schwester Jillian.
Ich löcherte ihn, wie er sich am liebsten die Zeit vertrieb, und widerwillig räumte er ein, als Center Fielder im Baseballteam der Schule zu spielen. Als ich nachbohrte, redete Joshua mit Bescheidenheit von seinen sportlichen Fähigkeiten. Doch der Stolz war aus seiner Stimme herauszuhören, wenn er Vermutungen anstellte, dass ein Baseball-Stipendium, gewährt auch aufgrund seiner guten Noten, wahrscheinlich seine Collegegebühren abdecken würde.
» Es ist nicht meine absolute Lieblingsbeschäftigung«, sagte Joshua, » aber ich spiele wirklich gern. Baseball am College würde auch meine Chancen vergrößern, Sportjournalist zu werden. Außerdem glaube ich nicht, dass meine Familie Lust hat, Studiengebühren an zwei Colleges zu bezahlen, und zwar gleichzeitig.«
» Jillian will auch aufs College?«
» Das sollte sie besser«, knurrte er beinahe. Überrascht von seinem grimmig-beschützerischen Gesichtsausdruck, lehnte ich mich zurück. Ich hob die Augenbrauen, um eine Erklärung zu fordern. Joshua beugte sich vor, einen Ellbogen auf dem Knie, und gestikulierte beim Sprechen mit der freien Hand in der Luft.
» Jillian … na ja, Jillian geht einem im Moment irgendwie ziemlich auf die Nerven. Sie ist genauso gescheit wie wir Übrigen, vielleicht gescheiter. Sie ist fast wie du, was Mathe betrifft.« Er schenkte mir ein rasches verschlagenes Lächeln,
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