Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
doch, dass diese Geschichten nur ausgedacht sind, um Kindern Angst vor der unsicheren Brücke einzujagen.«
Ich wandte mich um. Joshuas Vater ließ den Blick durch die Küche schweifen und betrachtete den Rest seiner Familie. Alle starrten sie Ruth ungläubig an. Als befürchteten sie, ihre Matriarchin – der Familien-»Pitbull«, wie Joshua sie genannt hatte – sei dabei, den Verstand zu verlieren, und übertreibe mit ihrem Geister-Hobby.
Ruth hingegen schüttelte den Kopf, und ihre Wangen erglühten in einem heftigen Zornesrot. » Davon weiß ich nichts, Jeremiah. Ich weiß nur, dass die Brücke eine böse Geschichte hat. Die Art Geschichte, die einen Ort verändern kann. Die ihn für gewisse … Dinge … anziehend machen kann.«
» Grandma, du weißt doch, ich glaube nicht an …«
Ruth lachte freudlos und schnitt Joshua erneut das Wort ab. » Joshua«, flüsterte sie beinahe und sah ihm wieder tief in die Augen. » Ich bin mir ziemlich sicher, dass du daran glaubst. Wenigstens glaubst du es jetzt.«
Meinen Lippen entrang sich ein leises, unbesonnenes Jaulen.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Ruth sah mich jedoch nicht an. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit weiter auf ihren Enkel.
Vielleicht hatte sie mich nicht aufjaulen hören? Und vielleicht war ich überempfindlich, wenn ich mir einbildete, sie könnte mich auch sehen? Wenn ich mir einbildete, dass sie mich als eines dieser » gewissen Dinge« bezeichnete, die mit der High Bridge in Zusammenhang standen?
Vielleicht. Doch es schien nicht mehr sonderlich wahrscheinlich.
Und ich wollte das Risiko nicht eingehen. Ja, auf einmal hatte ich das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Das Verlangen wegzulaufen brannte in meinen Gliedern. Ich warf Joshua einen letzten sehnsüchtigen Blick zu, bevor ich mehrere Schritte zurückwich.
Joshua folgte meinen Bewegungen aus dem Augenwinkel. » Nicht!«, setzte er zum Widerspruch an, presste dann jedoch die Lippen zusammen und schenkte seiner Großmutter ein verkniffenes Lächeln.
» Es tut mir leid«, murmelte ich am Ausgang zum Flur. » Aber ich glaube, ich verschwinde besser von hier.«
Er runzelte die Stirn und starrte immer noch seine Großmutter an, die den Blick unverwandt auf ihn gerichtet hielt. An meiner Lippe nagend, sah ich zwischen Ruth und Joshua hin und her. Schließlich blieb mein Blick an Joshua hängen. Ich sah auf seine Hand hinunter, die mir am nächsten war. Er ballte sie zur Faust und öffnete sie wieder, genau wie er es vor dem Matheunterricht heute getan hatte.
Trotz meiner Angst brachte mich diese kleine Geste zum Lächeln. Sie machte mir Mut, wenn auch nur ein winziges bisschen.
Ich holte tief Luft und sagte dann: » Triff mich morgen an deiner Schule, okay? Mittags auf dem Parkplatz?«
Joshua nickte kaum merklich, und mein Grinsen wurde breiter, verschwand allerdings, als Ruths Blick erneut zu mir huschte. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, dass ein solcher Blick mich nochmals töten könnte.
» Hilf mir, hier herauszukommen, Joshua«, flüsterte ich, als würde mein gedämpfter Tonfall irgendwie dazu führen, dass Ruth sich meiner weniger bewusst wäre. Ich wirbelte herum und stürzte den Flur entlang, bevor ich Gelegenheit hatte, das Gegenteil herauszufinden.
Als ich das Ende des Flurs erreicht hatte, kreischte ich beinahe vor Frustration auf. Die Fliegengittertür starrte mir entgegen, fest verschlossen für meine nutzlosen toten Hände.
Fast wäre ich vor Dankbarkeit zusammengebrochen, als ein Arm an mir vorbeigriff und die Tür aufstieß, weit genug, dass ich hindurch passte. Ich trat auf die Veranda und wirbelte mit einem breiten Lächeln der Erleichterung herum.
» Danke, Joshua, ich bin wirklich …«
Die Worte erstarben mir auf den Lippen.
Ruth starrte mich über die Türschwelle hinweg an, den Türrahmen mit der Hand gepackt, nur Zentimeter von mir entfernt.
Sie befand sich allein im Flur.
Ich schien den Blick nicht von Ruths Gesicht abwenden zu können. Während ich sie ansah, verschwamm mir alles vor Augen, und ich hätte schwören können, dass mein Kopf davon tatsächlich schmerzte.
Schließlich wandte ich den Blick mit beinahe albtraumhafter Langsamkeit von ihr. Ich machte unkoordinierte, ungeschickte Schritte über die Veranda und dann die Stufen hinab.
Hinter mir glaubte ich etwas zu hören – ein leises Gemurmel, eine Art monotonen Singsang. Doch ich sah nicht zu Ruth zurück. Stattdessen stürzte ich durch den Garten in
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