Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
nicht lange sein. Ich bin mir sicher, er will dich … Der Junge, der an jenem Ort spukt. Derjenige, auf den wir nun schon seit Jahren Jagd machen. Da du nun auch hier bist, ist unser Werk also nur noch komplizierter geworden.«
Ungebeten schossen mir Elis Warnungen bezüglich meines Wesens – und meiner Zukunft – durch den Kopf. Dann kam mir etwas anderes in den Sinn. Wie ich vermutet hatte, als Joshua mir zum ersten Mal die Seherinnen beschrieben hatte, wussten Ruth und ihre Freundinnen von Eli, wenigstens vage. Sie jagten ihn seit Jahren, anscheinend ohne Erfolg.
» Woher wissen Sie all diese Dinge über Geister und über die High Bridge?«, fragte ich.
» Weil ich den Großteil meines Lebens das Übernatürliche erforscht und die Brücke jahrzehntelang beobachtet habe. Ich weiß, was mit den ganz wenigen Seelen geschieht, die nicht ihr Leben nach dem Tod antreten. Und ich weiß, was mit denen geschieht, die an der High Bridge spuken – sie werden Sklaven der Brücke, genau wie dieser Junge, den wir zu stellen versuchen.«
» Aber ich spuke nicht an der High Bridge«, widersprach ich matt.
Endlich erwiderte Ruth meinen Blick und schenkte mir ein kaltes Lächeln. » Du verfolgst meinen Enkelsohn. Das reicht mir.«
Das musste sie also gemeint haben, an jenem Abend im Haus der Mayhews, als sie sagte, ich sei nicht, was sie erwartet habe: Obwohl tot und frei umherstreifend, war ich doch nicht der » Junge«, den sie suchten. Trotzdem beabsichtigte Ruth offensichtlich, mich genauso wie Eli zu behandeln. Als sei ich ein böser, einzelgängerischer Geist.
Ich hielt den Kopf so hoch, wie es nur ging angesichts der Tatsache, dass ich angefangen hatte zu zittern. » Joshua mag mich ebenfalls, wissen Sie? Ich verfolge ihn nicht gegen seinen Willen.«
» Das tut nichts zur Sache. Er wird seine Rolle als Seher schon noch begreifen, und dann wird er die richtige Wahl treffen.«
Ruth nickte, als wolle sie die Unabwendbarkeit dieser Schlussfolgerung unterstreichen. Doch etwas an ihren Worten ließ mich innehalten. Ich legte den Kopf schräg.
» Bloß, damit ich die ganzen Regeln verstehe – Seher haben die Wahl, ob sie an diesem Kampf teilnehmen möchten?«
Sie winkte ab. » Die Frage ist im Grunde gleichgültig, da bisher jeder Seher nach dem auslösenden Ereignis mitgemacht hat.«
» Bis jetzt«, stellte ich fest.
Offensichtlich überrascht, blinzelte Ruth. Sie hatte sich jedoch rasch wieder gefasst und schüttelte den Kopf. » Joshua hat seine Wahl noch nicht getroffen. Das hätte er nicht, ohne erst mich um Rat zu fragen.«
» Seien Sie sich da mal nicht so sicher«, antwortete ich leise, aber mit einer Gewissheit, an der nicht einmal Ruth Zweifel hegen konnte. So wütend Joshua auch auf mich gewesen sein mochte (und es vielleicht immer noch war), glaubte ich ihm doch, als er versprach, seine Gabe nicht gegen mich einzusetzen.
Ruth sah aus, als glaubte sie es jetzt ebenfalls. Sie starrte an mir vorbei, ohne wirklich etwas Bestimmtes anzusehen. Dachte nach. Dann murmelte sie, mehr zu sich selbst als an mich gerichtet: » Ich habe den rechten Augenblick bei Joshua abgewartet. Wollte den rechten Moment abpassen, um ihm von seinem Erbe zu erzählen. Aber vielleicht war das ein Fehler …«
Ihre Stimme verlor sich, und ich nutzte ihre Zerstreutheit und bohrte nach.
» Wenn Joshua eine Wahl getroffen hat, die Sie nicht für möglich gehalten haben, ergibt es dann keinen Sinn, dass ich das Gleiche tun könnte? Dass ich wählen könnte, nicht böse zu sein?«
Ruth verzog die Lippen und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. » Joshua kann sein Wesen leugnen, so viel er will, aber letztlich wird er dazu zurückkehren. Das muss er.«
Ich hob eine Augenbraue. » Wollen Sie damit sagen, keiner von uns beiden hat einen freien Willen?«
Ruth verengte die Augen zu Schlitzen, und schön, wie sie waren, hatten sie auf einmal etwas Raubtierhaftes.
» Es steht Joshua frei, seine eigenen Fehler zu begehen«, sagte sie, » vorerst. Aber ich möchte auf keinen Fall, dass du auch nur eine Sekunde lang glaubst, dass wir dir die gleiche Wahlfreiheit gewähren werden.«
Ein unheilvoller Schauder kroch meine Wirbelsäule empor. » Was genau wollen Sie damit sagen?«, flüsterte ich.
» Damit will ich sagen, du solltest besser verschwinden, denn deine Tage in der Welt der Lebenden sind gezählt. Wir haben Pläne in Bezug auf dich, und die beinhalten keine Dates mit meinem Enkel.«
Der unheilvolle Schauder wurde zu einem
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