Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
im Moment galt es, wichtigere Probleme zu lösen. Wie etwa jenes, dass seit unserem Kuss ein Tag verstrichen war, sodass Joshua sich wohl die eine oder andere Frage über meinen Verbleib stellte. Ohne diesen schrecklichen Ort eines weiteren Blickes zu würdigen, rannte ich los.
Möglicherweise eine halbe Stunde später – ich war mir nicht sicher – blieb ich schlitternd auf dem Parkplatz der Wilburton Highschool stehen. Ich keuchte, nicht vor Anstrengung beim Laufen, sondern aus Angst, ich sei zu spät eingetroffen, um ihn zu finden.
Glücklicherweise sagte mir ein Blick auf den Rasen hinter der Schule, dass ich noch rechtzeitig kam. Über den ganzen Rasen verstreut hatten sich Schüler in kleinen Grüppchen mit ihrem Mittagessen eingefunden, lachten und aalten sich in der Sonne. Ich eilte an ihnen vorbei, wobei ich im Vorübergehen jedes einzelne Gesicht musterte.
Da ich das Gesicht, das ich suchte, nicht erblickte, blieb mir keine andere Wahl, als vor der Tür zur Cafeteria zu warten und unruhig mit dem Fuß zu wippen, bis endlich jemand die Tür aufstieß. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Schüler, die herauskamen, tat sie als unbedeutend ab und machte einen Bogen um sie, um nach drinnen zu gelangen, bevor die Tür zufiel. Sobald ich mich in der Cafeteria befand, ließ ich den Blick ungeduldig durch den Raum schweifen und setzte mich dann in Bewegung.
Ich suchte die Tische so gespannt ab, dass ich ihn nicht sah, bis ich beinahe gegen seine Brust geprallt wäre. Wir schafften es beide gerade noch, stehenzubleiben und einen Zusammenstoß zu vermeiden, nicht einmal zwei Zentimeter voneinander entfernt.
Eine Woge echten Geruchs – süß, moschusartig, warm – überkam mich und verschwand dann wieder. Ich hob den Kopf, ganz langsam, bis ich ihm in die Augen sah.
Ich hatte Joshua gefunden.
Freude stieg in mir auf. Joshua hingegen schien meine Gefühle allem Anschein nach nicht zu teilen. Ja, er sah völlig ausdruckslos auf mich herab, die dunklen Augen unlesbar.
» Joshua …«, setzte ich an, doch eine andere Stimme schnitt mir das Wort ab.
» Mayhew, Dude, was ist los?«
» Nichts«, erwiderte Joshua rasch, ohne O’Reilly anzusehen.
» Du blockierst die Tür, Süßer«, rief ein Mädchen – Kaylen, glaube ich, aus der Gruppe hinter Joshua.
Doch Joshua bewegte sich immer noch nicht. Er starrte auf diese kalte, unverwandte Art und Weise auf mich herab. Schließlich rührte er sich, sah mir weiter fest in die Augen, aber drehte sich ein wenig nach hinten.
» Mir ist gerade eingefallen«, sagte er seinen Freunden, » dass ich etwas im Wagen vergessen habe.«
» Könntest du es dann vielleicht holen gehen?«, säuselte Jillian. » Denn › Joshua Mayhew‹ reicht für uns andere nicht als Entschuldigung, wenn wir zu spät kommen.«
» Für mich reicht es auch nicht als Entschuldigung. Frag bloß mal Mrs. Wolters.« Er drehte sich ganz zu der Menge hinter ihm um und schenkte ihnen sein gewohntes, breites Grinsen. Doch als er sich wieder zu mir umdrehte, verschwand das Grinsen, und in seinen Augen blitzte endlich echte Emotion auf. Mit einem Schulterzucken schob er sich an mir vorbei und ging aus der Cafeteria.
Mir war am ganzen Körper kalt. Noch kälter, als in der eisigen Luft in der Unterwelt, die mir bis ins Knochenmark geschnitten hatte. Die Emotion, die in Joshuas Augen aufgeblitzt war, erkannte ich ohne Weiteres, auch wenn ich sie noch nie zuvor dort gesehen hatte.
Es war Zorn. Joshua war wütend.
Zitternd fand ich eine Lücke zwischen den Schülern, die hintereinander durch die Tür gingen, und folgte ihnen. Draußen hielt ich sofort nach Joshua Ausschau. Ich sah ihn: Er befand sich bereits etliche Schritte von seinen Freunden entfernt und ging rasch auf den Schulparkplatz zu.
Endlich gelang es mir, mich aus der Menge zu befreien, und ich eilte los, um Joshua einzuholen. Beim Anblick der starren Muskeln in seinem Nacken zögerte ich jedoch. Ich hielt einen guten Meter hinter ihm inne, einen Fuß auf dem Bordstein, den anderen unschlüssig in der Luft über dem Asphalt.
Joshua erreichte sein Auto, öffnete die Beifahrertür und kramte demonstrativ nach dem imaginären vergessenen Gegenstand am Boden herum. Als er sich wieder aufrichtete, bedachte er mich mit einem Seitenblick und wies rasch mit dem Kopf auf die offene Tür. Beide Gesten wirkten entschieden verärgert.
Ich schluckte, während mein Fuß sich auf den Asphalt senkte. Nachdem ich an Joshua vorbeigetrottet war, kroch ich
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