Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
wir es. Späte 1990er Jahre. Das hier ist ein Rocksong aus meiner frühen Kindheit. Er gefällt mir eigentlich richtig gut, aber ich war damals noch zu jung, als dass ich mich daran erinnern könnte, ob er populär war.« Joshua ließ es noch einmal klicken und sah dann wieder auf, um mir beim Zuhören zuzusehen.
Dieser Song fing ganz ähnlich wie der erste an, mit ein paar sich wiederholenden Gitarrenakkorden. Dann Schlagzeug, und eine Männerstimme – älter als die aus dem ersten Song, aber ganz genauso nuschelig – setzte ein. Als der Mann lauter wurde, wurde es die Gitarre ebenfalls. Die Klänge wurden rau und freudig. Ich musste daran denken, wie ich mich in Joshuas Auto gefühlt hatte, während wir zur Schule fuhren. Frei und als würde ich fliegen.
Und dann ließ mich das Lied an etwas anderes denken.
Etwa in der Mitte des Songs, genau an der Stelle seines Crescendos, schimmerte meine Umgebung und veränderte sich.
Als sich das Bild verfestigte, befand ich mich nicht länger in Joshuas Schlafzimmer. Ich war in einem anderen Zimmer, stand an einem offenen Fenster und blickte in einen sonnenbeschienenen Garten hinaus. Mit den Händen hielt ich ein hölzernes Fensterbrett fest, dessen Oberfläche aufgrund der absplitternden weißen Farbe rau war. Von draußen traf mich eine warme Brise. Sie brachte bloß einen Hauch von Kühle mit sich, den Herbst versprechend, aber immer noch am Ende des Sommers festhaltend. Irgendwo hinter mir spielte ein Radio denselben Song, den ich mir eben noch in Joshuas Zimmer angehört hatte. Während die Stimme des Mannes glücklich heulte, wiegte ich mich lächelnd im Rhythmus. Frei und als würde ich fliegen.
Auf einmal endete die Rückblende.
Ein Rest des Lichts aus der Rückblende geisterte noch als seltsame schwarze Flecken vor meinen Augen, als hätte ich direkt in die Sonne gesehen. Erst nach ein paar Sekunden sah ich wieder deutlich – und sah, dass Joshua mich erwartungsvoll anstarrte. Als es mir endlich möglich war, mich wieder zu rühren, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus.
» Ich kenne es!«, jubelte ich. » Ich kenne das Lied! Ich habe es mir einmal angehört, in einem Haus … meinem Zuhause, glaube ich.«
» Ausgezeichnet!«, rief Joshua und klatschte sich mit den Händen auf die Knie. Dann beugte er sich näher zu mir und flüsterte: » Weißt du, ich glaube nicht, dass jemand böse sein kann, der einen so ähnlichen Musikgeschmack hat wie ich.«
» Hoffen wir einmal nicht«, flüsterte ich zurück.
» Ich muss nicht hoffen. Ich weiß es.«
Ich alberte nur herum – wir alberten nur –, und dennoch glaubte ich auf einmal, was er eben gesagt hatte.
Ich war nicht böse. Ruth hatte unrecht. Eli hatte unrecht.
Viele Beweise hatte ich nicht: bloß ein paar Gitarrenakkorde, ein paar zusammenhanglose Erinnerungen und eine Handvoll Augenblicke mit diesem Jungen. Doch in dem Moment wusste ich es ebenfalls. Glaubte es.
Ich konzentrierte mich mehr auf Joshua. Obwohl er nicht ahnen konnte, was mir soeben durch den Kopf ging, sah er mir aufmerksam in die Augen. Nach ein paar weiteren Momenten dieses absoluten Schweigens neigte Joshua den Kopf und sah auf die Tagesdecke hinunter. Unruhig rieb er an einer losen Faser seiner Jeans herum. Und ich zupfte an meinem Oberteil.
Aus unserem Schweigen las ich ein paar subtile Veränderungen heraus. Ich konnte nicht für Joshua sprechen, aber ich hatte das Gefühl, als hätten wir etwas sehr Intimes geteilt. Intimer als alles, was wir bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatten.
Joshua räusperte sich und fummelte wieder an dem MP3-Player herum, vielleicht in dem Versuch, etwas gegen die Anspannung zu tun. Er spielte ein Lied, das ich beinahe sofort wiedererkannte: ein leises Violinkonzert. Vivaldi. Ich lächelte ein wenig, während Joshua sich von dem Gerät weg und zurück auf das Bett rollte.
» Das gefällt mir.«
» Hab ich mir schon gedacht, weil es mir auch so gefällt.« Er schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. » Gute Musik zum Einschlafen.«
Bei dem Wort » Einschlafen« runzelte ich die Stirn und machte Anstalten, vom Bett aufzustehen.
» Sollte ich jetzt besser gehen?«
» Nein.« Joshua streckte die Hand nach mir aus. » Bleib. Unterhalte dich mit mir.«
Der Bitte kam ich nur zu gern nach. Ich rutschte weiter auf die Steppdecke und zog die Beine unter mich.
Wir redeten stundenlang, zusammengerollt auf dem Bett, und wurden nur still, wenn wir ein anderes Familienmitglied an der Tür vorübergehen
Weitere Kostenlose Bücher