Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
erschöpft und aufgewühlt. Tim schloss Neve in die Arme und küsste sie. Seine Lippen schmeckten nach Salz und der Frische des Meeres.
Sie standen auf dem Sand in einem Kreis zusammen. Shane schilderte aufgeregt, was er auf dem Meeresgrund gesehen hatte, und Neve fiel auf, dass seine Augen noch mehr strahlten, weil seine Mutter gekommen war, um ihm zuzuschauen. Tims Arm umfing sie und sie konnte nicht umhin an den Abend zu denken, als sie hier am Strand gewesen waren, an der gleichen Stelle, nur dass es da wesentlich kälter gewesen war.
Der Strand war unter einer Decke aus Schnee und Eis begraben gewesen; ihre Haut hatte sich taub angefühlt, teils von der Kälte, teils von ihrer inneren Starre. Die Schneeeule hatte sich vom Treibholz in die Lüfte erhoben, war schnell und anmutig davongeflogen. Der Strand trug die Spuren und Fußabdrücke vieler Lebewesen, die sie liebte – manche waren für immer verschwunden, andere entstanden gerade erst.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie leise, nur für Tims Ohren bestimmt.
»Mir geht es gut. Besser als ich dachte.«
»Was ist mit deinem Vater?«
»Kein Problem. Ich denke, wir gewöhnen uns an den Gedanken an das Unvermeidliche. Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erleben muss, aber das Wrack wird bald verschwunden sein.«
Ein weiterer Wagen fuhr vor und hielt auf der Straße hinter der Düne. Neve hob den Blick und sah, wie die Tür aufging. Mehrere Personen stiegen aus, und man half einer alten Dame heraus, die auf dem Rücksitz saß. Sie hatte schlohweißes Haar und war ganz in Schwarz gekleidet. Sie stand kerzengerade da, den Blick auf das Wasser gerichtet.
Die Frauen von Damiens ehemaligen Kameraden gingen zu ihr und den Leuten in ihrer Begleitung. Vielleicht eine weitere Ehefrau, dachte Neve. Von einem ehemaligen Mannschaftskameraden, die es angesichts der Nachrichten über die Berkeley-Ausstellung nach Secret Harbor zog. Die Stimmen trugen weit, Gesprächsfetzen drangen zu ihnen herüber. Neve sah, wie sich Mickey und Shane einen vielsagenden Blick zuwarfen.
»Sie sprechen deutsch«, rief Mickey und lief die Dünen hinauf.
Talia ging ihnen nach, gefolgt von Joe, Tim und Neve. Sie beobachtete, wie Tim seinen Vater stützte, als sie sich den Weg durch den Sand bahnten. Er gab unter ihren Füßen nach und die Düne war steil; im Boot, auf dem Wasser, schien Joe ganz in seinem Element gewesen zu sein, doch nun merkte man ihm an, dass er fünfundachtzig war.
Als sie die Straße erreichten, drehte sich Mickey zu ihnen um. Sie hatte sich mit den Neuankömmlingen unterhalten – der hochbetagten weißhaarigen Dame und ihren vier Begleitern.
»Sie haben meinen Brief erhalten«, rief Mickey mit glänzenden Augen.
»Ja, meine Mutter war sehr froh darüber«, sagte eine der Frauen – sie war schätzungsweise fünfundsechzig und wirkte sehr elegant mit ihren modisch frisierten grauen Haaren und dem engen schwarzen Kostüm. »Mein Bruder, seine Frau, mein Mann und ich haben unsere Mutter begleitet; sie wollte diese Reise schon lange machen.«
Die alte Dame sprach deutsch und die Tochter übersetzte.
»Sie sagt, dass sie so lange gewartet hat, weil ihr vor diesem Augenblick graute. Sie wusste, an dieser Küste würde sie ihm nahe und zugleich noch weiter entfernt von ihm sein.«
»Ihrem Mann?« Joe trat näher.
Neve sah, wie Tim den Ellbogen seines Vaters hielt, ihn stützte, bevor sich Joe von ihm löste.
Die Frau übersetzte die Worte für ihre Mutter, und danach ihre Antwort.
»Ja. Er starb hier, vor der Küste, an Bord des U-Boots.«
»U-823.«
»Ja.«
»Am siebzehnten April 1944«, sagte Joe. Er sah die alte Dame an, nicht ihre Tochter. »Ich bin Joseph O’Casey; ich war Kommandant der USS James , die das U-Boot Ihres Mannes versenkt hat.«
»Mein Vater war erst vierundzwanzig Jahre alt«, sagte die Tochter.
»Genauso alt wie mein Vater«, entgegnete Tim.
»Sie waren Feinde«, erklärte einer der Männer und trat vor. Er war groß und dunkelhaarig, mit blauen Augen hinter einer randlosen Brille. »Der Krieg hat uns unsere Väter genommen.«
Neve sah, wie Tim mit sich rang; vielleicht wollte er darauf hinweisen, dass er ihm auf eine Art ebenfalls den Vater genommen hatte. Aber sein Vater stand neben ihm, und er wusste, was für ein Segen es war, wenn Menschen ein ganzes Leben miteinander hatten, um an der Heilung ihrer schlimmsten Verletzungen zu arbeiten.
»Es tut mir unendlich leid«, sagte Joe. »Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu
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